Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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der Franzosen und ihrer steten Verletzung der Genfer Convention, „die freilich nicht viel tauge und in der Praxis kaum durchzuführen sei“. Dann erzählte er, daß die Rothhosen gestern keine große Vorsicht an den Tag gelegt und keinen besonders nachhaltigen Widerstand geleistet hätten. „Bei Beaumont wurden sie am hellen Morgen in ihrem Lager von einer Schleichpatrouille schwerer Artillerie überfallen. Wir werden’s heute sehen: die Pferde liegen erschossen an den Piquetpfählen, viele Todte in Hemdsärmeln, ausgepackte Koffer, Schüsseln mit gekochten Kartoffeln, Kessel mit halbgahrem Fleisch und dergleichen.“ Er kam dann auf Borck, den Schatullenmeister des Königs, von diesem auf Bernstorff, unsern Gesandten in London, und von dem auf seinen Nachfolger auf dem Botschafterposten in Paris, von der Goltz, zu sprechen (der nach seiner Schilderung ein Geistesverwandter Arnim’s gewesen sein muß). Darauf charakterisirte er Radowitz, wobei er äußerte: „Man hätte sich vor Olmütz mit der Armee eher in Positur setzen sollen.“ – – „Statt an Rüstung zu denken, beschäftigte er den König in Verfassungskleinigkeiten, einer wetterauer Grafenbank und anderen mittelalterlichen Scherzen, mit Etiquettesachen und dergleichen. Einmal hatten wir Nachricht, daß Oesterreich in Böhmen 80,000 Mann zusammenzöge und viele Pferde kaufe. Man sprach davon beim Könige, und Radowitz stand dabei. Plötzlich trat er mit der Miene des Bestunterrichteten heran und sagte: ‚Oesterreich hat in Böhmen 22,493 Mann und 2005 Pferde‘ – Sprach’s und drehte sich mit dem Bewußtsein um, wieder einmal imponirt zu haben.“
Vor Beaumont stiegen der König und der Minister zu Pferde, um nach der Stelle zu reiten, wo die „Schleichpatrouille“ gearbeitet hatte. Ich folgte ihnen zu Fuße, während die Wagen nach dem Städtchen hinfuhren, um zu warten. Das betreffende Feldstück lag rechts von der Straße, etwa achthundert Schritt von ihr entfernt. Vor demselben, nach dem Walde der Thalsohle hin, befinden sich heckenumgebene Aecker, auf denen etwa ein Dutzend todte Deutsche liegen – Thüringer vom 31. Regiment. Die Lagerstelle selbst sieht entsetzlich aus. Alles blau und roth von französischen Todten, die zum Theil von den geplatzten Granaten ganz unbeschreiblich übel zugerichtet sind, schwarz von Pulver, starrend von geronnenem Blute, auf einem Flecke sechs beieinander, von denen dreien die Köpfe, einem Unterleib und Eingeweide weggerissen sind, während einer, dem man das Gesicht mit einem Tuche bedeckt hat, noch gräuelvoller entstellt zu sein scheint. Ein Stück weiter liegt eine Hirnschale wie eine Schüssel, daneben das Gehirn wie ein Kuchen. Käppis, Mützen, Tornister, Papiere, Jacken, Schuhe, Wichs- und Kleiderbürsten sind umher gestreut. Offenstehende Officierskoffer, Pferde an Pfahl und Halfter erschossen, an erloschenen Kochfeuern Kessel mit geschälten Kartoffeln oder Schüsseln mit Fleischstücken zeigen, wie unverhofft die Unsern und mit ihnen das Verderben gekommen sind. Auch eine bronzene Kanone ist stehen geblieben. Ich nehme mir von einem Todten eine Messingmedaille mit, die er an einer Gummischnur auf der bloßen Brust trägt. Ein Heiliger ist darauf, also wahrscheinlich ein Amulet; es hat den armen Burschen aber nicht „gefroren“ gemacht. Marketender und Soldaten gehen suchend herum. „Sind Sie ein Doctor?“ ruft man mir zu. – „Ja, aber kein Arzt. Was wollen Sie?“ – „Dort liegt Einer; der lebt noch.“ Es war richtig, und er wurde auf einer mit Leinwand bespannten Tragbahre fortgeschafft. Eine Strecke weiter am Feldwege, der nach der Chaussee führt, war wieder Einer auf den Rücken hingestreckt, der, wie ich mir ihn näher besah, die Augen verdrehte, und dessen Brust noch athmete, obwohl eine Flintenkugel ihn in die Stirn getroffen hatte. Es mochten auf einem Raum von fünfhundert Schritt in’s Geviert wohl anderthalbhundert Leichen sein, darunter nicht mehr als zehn oder zwölf von den Unsern.
Ich hatte wieder einmal genug von solchen Bildern und beeilte mich, nach Beaumont zu den Wagen zu kommen. Auf dem Wege dorthin sah ich rechts von der Landstraße in einem rothen Steinbruche eine Masse Gefangener. „Circa siebenhundert,“ sagte der Lieutenant, der sie bewachte. Am Markte und um die hochgelegene Kirche waren wieder zahlreiche gefangene Rothhosen, darunter mehrere höhere Officiere. Ich fragte einen sächsischen Jäger, wo die Wagen des Königs seien. „Sind schon fort – vor einer Viertelstunde – dort hinaus.“ Also verspätet – fatal! Ich eile nach in der angegebenen Richtung, und es gelingt mir, den Kanzler am Rande des Waldeck über dem Dorfe, das Tags vorher brannte, einzuholen. Er hat gewartet und schon nach mir zurückschicken wollen, sich aber mit dem Gedanken beruhigt: „Der Doctor kommt nicht um. Der bleibt zur Noth des Nachts bei einem Wachtfeuer und fragt sich hernach schon wieder zu uns.“
Er erzählte dann, was er inzwischen erlebt, unter Anderm: „Bei der Kirche bemerkte der König einen Musketier, der verwundet war, reichte ihm die Hand, ohne Zweifel zu großer Verwunderung der französischen Officiere, und fragte, was er für ein Metier habe. – Er wäre Doctor der Philosophie. – ‚Nun, dann werden Sie gelernt haben, Ihre Verwundung philosophisch zu ertragen,‘ sagte der König. – ‚Ja,‘ antwortete der Musketier, das hätte er sich schon vorgenommen.“
Unterwegs holten wir in einem Dorfe marode Baiern ein. „Heda, Landmann!“ rief der Bundeskanzler dem einen zu, „wollen Sie ’mal Cognac trinken?“ Natürlich wollte er und ein anderer und ein dritter ebenfalls, und so tranken sie und noch ein paar aus des Ministers Feldflasche und bekamen dann noch jeder seine Cigarre.
Eine halbe Meile weiter hatte der König für sich und die Fürstlichkeiten in seinem Gefolge in einem Dorfe ein Frühstück arrangiren lassen, an welchem der Chef auch theilnahm, während ich mir auf einem Steine meine Notizen machte und dann den Holländern, die neben dem Orte in einem großen grünen Zelte ihre Hülfsambulanz aufgeschlagen hatten, Verwundete herbeischaffen und pflegen half.
Abends nach sieben Uhr waren wir nach langer Fahrt in Vendresse, wo der Kanzler im Hause der Wittwe Baudnot Wohnung nahm.
Ein reifkalter Spätherbsttag – die Erinnerung daran verweist mich nun schon auf viele, viele Jahre zurück – hatte mich wieder einmal zu einem mir befreundeten Förster eines dem Jagdschlosse Moritzburg nahe gelegenen Revieres hinausgeführt, mit dem ich der Feldjagd obliegen wollte, die damals in jener Gegend noch recht ergiebig war. Von früh morgens an bis zur späten Tagesneige, die dann doch endlich Halali gebot, waren wir, außer bei einem kurzen Mittagshalte, ununterbrochen auf der Suche geblieben, als mein lieber Jagdgeber den friedlichen Klang der Vesperglocke vom hinter dem Walde verborgenen Kirchdorfe her dahin deutete: wir sollen der Schenke zueilen. Beschleunigten Schrittes wandte daher der Gute sich einer an der nahen Heerstraße gelegenen Ausspannung zu, um hier vor dem Heimgang erst noch ein wenig zu rasten, sowie dabei seinen trocken gewordenen Gaumen durch ein „Einfaches“ (Lagerbier kannte man zu jener glücklichen Zeit in dieser Gegend noch gar nicht) anzufrischen, dem dann freilich auch noch – nur aus sanitätlicher Rücksicht, wie der durstige Nimrod behauptete – einige „Brände“ nachgeschluckt wurden. Bei dieser nichts weniger als schwelgerischen Zeche konnte mein Jägersmann aber doch mit bewundernswerther Ausdauer stundenlang sitzen bleiben, folgte er doch wahrscheinlich dabei nur einem seiner beliebten Waidsprüche:
„Ich sitze gern im Schenkenhaus;
Dort schlägt kein Reis das Aug’ mir aus.“
Mir aber war’s eben auch recht, in der verräucherten Gaststube, die mit ihrer glänzend schwarzen Balkendecke und mächtigen Holzsäule inmitten des dämmergefüllten Raumes eine höchst gemüthliche war, ausharren zu müssen. Hat doch ein solches Local mit seinen ständigen wie wechselnden Insassen, den Wirthsleuten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_779.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)