Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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Persönlichkeit des neuen Nachbars errungene Vortheil durch das unkluge und, wie sie es nannte, unweibliche Betragen der Nichte fast wieder verloren. In der That zeigte Paula so keck und offen ihr Wohlgefallen an dem Gaste, daß er dadurch hätte eitel gemacht werden können, wenn er hierzu mehr beanlagt gewesen wäre. Als sie ihn begrüßte, hätte man fast glauben sollen, sie reiche einem alten, lang ersehnten Freunde, nicht einem beinahe Unbekannten, die Hand, und als sie lächelnd und mit warmer Röthe auf den Wangen den Kopf hob und ihm in’s Gesicht schaute, da ruhte ihr sprechendes Auge mit so unverkennbarer Freude auf seinen Zügen, daß Tante Sidonie sich nicht enthalten konnte, durch ein Kopfschütteln ihren Unwillen über diesen Mangel an Zurückhaltung an den Tag zu legen.
„Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein,“ sagte Max, sich mit seiner Anrede mehr an die ältere, als an die jüngere Dame des Hauses wendend, „wenn ich störend in Ihren Kreis trete! Ich hatte bereits bei Herrn Kayser vorgesprochen, um Ihnen eine Nachricht durch seine freundliche Vermittlung zugehen zu lassen, welche ich für dringend halte. Und da ich erfuhr, daß er nicht zu Hause war, habe ich mich selbst, auf die Gefahr hin, Sie zu stören, entschlossen, meine Botschaft Ihnen persönlich zu überbringen.“
Während er sprach, war Kayser zu ihm getreten und hatte ihn durch einen Händedruck begrüßt. Tante Sidonie lud zum Sitzen ein und bezeichnete einen Sessel dem kleinen Ecksopha gegenüber, auf welchem sie neben Hanna saß. Es war keinem der Anwesenden aufgefallen, daß seit Maxens Eintritt die Farbe auf dem Antlitze des jungen Mädchens in schnellem Wechsel gekommen und gegangen war. Auch auf dem Gesichte des Mannes erschien plötzlich der Ausdruck freudiger Ueberraschung, als er, seinen Blick erhebend, das zarte, erröthende Mädchengesicht sich gegenüber sah.
„Herr Max Reinhard – Fräulein Kayser,“ stellte Tante Sidonie vor.
„Wir sind bereits mit einander bekannt,“ sagte Hanna lächelnd in lieblicher Verwirrung.
„Ja, ich hatte in diesem Frühjahre das Glück, mit Fräulein Kayser von Bonn aus rheinaufwärts zu fahren,“ erklärte Max. „Zwar dauerte unsere gemeinschaftliche Fahrt nur einige Stunden, aber dennoch freute ich mich aufrichtig über die Nachricht, daß wir Sie für einige Zeit zur Nachbarin erhalten würden.“
„Und weshalb haben Sie mir nicht von diesem Zusammentreffen erzählt?“ fragte Kayser.
„Weil ich nur hoffte, aber keine Sicherheit dafür besaß, daß meine liebenswürdige Bekannte, deren Namen ich zufällig erfuhr, mit Ihrer erwarteten Nichte identisch sei.“
Während dieser Erklärung hatte Paula seitwärts gestanden und mit einem Lächeln auf den Lippen die Beiden scharf beobachtet. Ihr Blick ruhte noch auf Hanna’s Antlitz, als Max sich wieder in ruhiger, geschäftsmäßiger Weise an Tante Sidonie wandte. Er erklärte ihr in wenig Worten den Zweck seines Kommens. Die Polizeibehörde von Elmsleben hatte bei den Nachforschungen, welche sie auf seine Anzeige von der Zertrümmerung seiner Maschinen angestellt, in Erfahrung gebracht, daß der Haupträdelsführer des ganzen Tumultes, um sich den Folgen seiner That zu entziehen, eine Zufluchtsstätte bei seinem Bruder, einem der Arbeiter auf dem Gute Fleurmont, gesucht und gefunden hätte. Man hatte ihn von diesem Umstande benachrichtigt, und er war den Gensd’armen, welche mit der Verhaftung des Schuldigen beauftragt waren, vorausgeeilt, um ihr Erscheinen auf dem Gute der Besitzerin zu erklären.
„Ich erlaube mir zugleich,“ schloß er seine Rede, „Ihnen mein Bedauern darüber auszusprechen, daß auf diese Weise auch Ihnen Unannehmlichkeiten aus dem Conflicte erwachsen, unter welchem ich augenblicklich leide. Doch habe ich Sorge getragen, daß die Verhaftung so leise und schonend wie möglich vor sich gehe. Auch ist ein Wagen bereit, um den Verbrecher schnell und ohne Aufsehen nach Elmsleben überzuführen.“
Nach dieser Auseinandersetzung schien er die Aufgabe seines Besuches für beendigt zu halten. Er wollte sich erheben, wurde indessen durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall daran verhindert. Paula’s großer Leonberger Hund, der bis zu Maxens Eintritt ruhig an der Gartenthür im Sonnenschein gelegen, hatte sich, während Jener sprach, erhoben und war langsam näher gekommen. Es schien zwischen dem Geschmacke des Thieres und dem seiner Herrin eine merkwürdige Uebereinstimmung zu herrschen, denn mit allen Zeichen einer lebhaften Freude umkreiste es den Gast, bis es endlich sich neben ihn setzte, seinen Kopf auf sein Knie legte und mit klugem Auge zu ihm aufschaute.
„Das ist ein gutes Omen – das bedeutet gute und treue Nachbarschaft,“ sagte Paula mit glücklichem Lächeln zu Max, der mit sichtlichem Wohlgefallen das schöne Thier liebkoste. „Ich gebe viel auf die Sympathien meines Tristan. Er ist ein feiner Menschenkenner; sein Urtheil hat sich fast immer als richtig bewährt.“
„Diese Zuneigung des Hundes ist in der That wunderbar,“ meinte Tante Sidonie. „Er pflegt sonst gegen Fremde sehr unfreundlich zu sein, gegen Sie benimmt er sich aber, als ob er Sie seit lange kenne. Ich weiß wohl, daß dies nicht der Fall sein kann, denn Paula liebt das Thier sehr und trennt sich darum nie von ihm. Es hat sie auch auf allen ihren Reisen begleitet. Hast Du jemals gesehen, Kind,“ wandte sie sich an ihre Nichte, „daß es sich gegen einen Fremden so unterwürfig und zuthulich gezeigt hat?“
„O doch,“ sagte Paula lächelnd, „auch unter den Gästen, welche im Braunbach’schen Hause aus und ein gingen, hatte es einen bevorzugten Liebling. Ich habe oft den Vorwurf hören müssen, daß ich meine Sympathien mir von Tristan dictiren laste.“
„Wenn Sie es dieses Mal thun, so habe ich Nichts dagegen,“ sagte Kayser, sich in’s Gespräch mischend. „Ich freue mich überhaupt, daß diese unangenehme Geschichte wenigstens die eine gute Folge gehabt hat, Ihre Bekanntschaft mit Herrn Reinhard zu vermitteln.“
„Das war nicht mehr nöthig, Herr Kayser,“ entgegnete Paula. „Ich sagte Ihnen schon, daß Herr Reinhard uns gestern bei einem sehr unangenehmen Vorfalle ritterlich zu Hülfe gekommen ist.“
„Den Du durch Deine Liebhaberei, die kühne Rosselenkerin zu spielen, selbst herbeigeführt hattest,“ sagte die Tante.
„Ich bitte um Verzeihung, Tante, so verhielt es sich nicht ganz. Die Sache war die: unsere Pferde gingen durch, ehe ich noch die Zügel in der Hand hatte. Willst Du also Jemand einen Vorwurf machen, so trifft derselbe unsern Kutscher, nicht mich. Es hätte uns übrigens recht schlimm gehen können, wenn Herr Reinhard unsere Pferde nicht noch rechtzeitig zum Stehen gebracht hätte.“
Die Blindenanstalt in Steglitz, von welcher wir in unserer Nr. 21 schon einen längeren Bericht brachten, hatte am 28. September zum ersten Male die Vertreter der Behörden, Angehörige der Zöglinge, Freunde und Gönner des Instituts zu einer „musikalischen Unterhaltung“ eingeladen. Bei der tiefen Bedeutung, welche der Musikunterricht für Geist, Gemüth und Erziehung der Blinden hat, und im Hinblick auf die dabei zu überwindenden Schwierigkeiten war es erklärlich, daß die zahlreich erschienenen Zuhörer den im Programm angekündigten dreizehn Nummern mit einer gewissen Beklommenheit entgegen sahen, um so mehr, als wohl die meisten der Anwesenden noch nie einem von Blinden gegebenen Concerte beigewohnt hatten. Das Mitleid, welches bei dem Erscheinen der jugendlichen Künstler, Sänger und Sängerinnen in der hellerleuchteten Aula rege geworden war, wich indeß sehr bald einem freudigen Gefühl, als die ernsten und feierlichen Klänge des Bach’schen Orgel-Präludiums und Fuge C-moll, vorgetragen von einem der talentvollsten Schüler, den Saal durchbrausten. Hieran schlossen sich in buntem Wechsel Clavier-Soli: Lieder ohne Worte von Mendelssohn, Beethoven’sche Sonaten, Compositionen von Schumann und Chopin, Cello- und Violinvorträge, die durchweg mit feinem Verständniß, sauberer Technik und großer Sicherheit zu Gehör gebracht wurden. Wenn diese Einzelleistungen schon das ganze Interesse des Auditoriums fesselten, so geschah dies in erhöhtem Maße durch den Chorgesang, an welchem sich fast alle Zöglinge der Anstalt betheiligten. Die dreistimmig a capella ausgeführten Lieder entzückten das lauschende Publicum sowohl durch ihre Reinheit und deutliche Aussprache, wie auch durch den höchst eigenartigen Schmelz und zarten Wohllaut. Statt der frischen und hellen Töne, wie sie wohl sonst in der Schule
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_731.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)