Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1877) 684.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


und die ihm zum Bedürfniß gewordene Ruhe seines Haushaltes in keiner Weise störe. Noch bis gestern hatte der Entschluß fest in ihm gestanden, das junge Mädchen lediglich auf den Verkehr mit seiner alten Haushälterin als der für ihre körperliche Pflege geeignetsten Person zu beschränken. Seitdem aber war ihm doch ein Bedenken aufgestiegen, ob dieser Entschluß durchführbar sein würde. Das junge Fräulein hatte bei aller Bescheidenheit ihres Auftretens ein Etwas in ihrem Wesen, welches Rücksicht verlangte, welches ihn gezwungen hatte, an seine hochgebildete Nachbarin als an einen passenden Umgang für sie zu denken.

So war es gekommen, daß er jetzt Mariens zierlichem Hausmädchen gegenüberstand, und auf ihre Weisung, er werde das Fräulein entweder im Garten oder im Saale finden, langsam in Reinhard’s Stube, die erste in der Reihe, eintrat. Er fand die Thür, welche zum Gartensaale führte, halb geöffnet, aber in beiden Zimmern war die Gesuchte nicht zu sehen. Als auch sein leises Klopfen keine Erwiderung fand, glaubte er sie im Garten suchen zu müssen, und hatte den Saal in dieser Absicht schon halb durchschritten, als er plötzlich stehen blieb. Ein kleines Zimmer neben dem Saale, das Marie als ihr ausschließliches Eigenthum betrachtete, wo sie malte, schrieb und dachte, war geöffnet, sodaß Kayser es von seinem Standpunkte aus überblicken konnte. Die Inhaberin hatte sich – so schien es wenigstens dem Beobachter – in Erinnerungen vertieft. Ein Kästchen, dem sie verschiedene Schmuckgegenstände entnommen hatte, stand neben ihr, und als ob[1] beim Anblicke dieser Dinge überstandene Schmerzen und Leiden noch einmal in ihr lebendig geworden waren, stand sie mit gesenktem Haupte da, beide Hände auf die Tischplatte gestützt; ihr ganzer Körper erbebte unter heftigem, aber lautlosem Weinen.

Es wäre für Kayser eine schwierige Aufgabe gewesen, von seinen Gefühlen bei diesem Anblicke Rechenschaft abzulegen. Das Erste, was ihn überkam, war ein unbegrenztes Staunen, hier, wo er stets eine unwandelbare, kühle Ruhe, eine gleichmäßige, nicht zu erschütternde Sammlung gefunden hatte, auf einen so leidenschaftlichen Schmerzausbruch zu stoßen. Mariens Gleichmuth hatte ihn oft geärgert und den Wunsch in ihm erzeugt, sie einmal außer Fassung zu sehen. Er hatte nie eine Gelegenheit, sie zu reizen, vorübergehen lassen, ohne doch jemals recht zu seinem Zwecke gelangt zu sein. Der Anblick, der sich ihm jetzt darbot, hätte ihn also eigentlich mit stiller Befriedigung erfüllen müssen – aber in dem tiefen und doch so tapfer getragenen Kummer des Mädchens lag etwas so Ergreifendes, daß eine derartige Empfindung nicht in ihm aufkam. Er fühlte im Gegentheil ein tiefes Mitleid, wie er sich dessen selbst kaum für fähig gehalten hatte. Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, wo er es gelernt, sich gegen Weiberthränen zu verhärten. Er hatte sie so oft und bei so geringfügigen Veranlassungen fließen gesehen, daß er sich für ganz und gar abgehärtet gegen sie gehalten hatte. Hier aber – das sah er – wurden sie um keines kleinen Kummers willen vergossen.

Einige Minuten lang stand er rathlos da. Dann kam ihm plötzlich die Erkenntniß, daß er Marie in dieser Situation nicht überraschen dürfe. Eben wollte er mit aller Vorsicht und Discretion seinen Rückzug bewerkstelligen, als Marie, durch ein leises Geräusch aufmerksam gemacht, sich umwandte und mit unverkennbarem Schrecken ihn erkannte. Sie faßte sich jedoch schnell, trocknete ihre Thränen und trat ihm einige Schritte entgegen. Sekundenlang standen sie sich schweigend gegenüber. Dann sagte Kayser mit einer Stimme, deren zarter, schüchterner Ton seinem eigenen Ohre fremd und überraschend klang:

„Verzeihen Sie, daß ich hier eingedrungen bin! Ich konnte nicht wissen, wie störend ich Ihnen komme. – Es war vornehmlich die Sorge um Ihren Bruder, die mich hergetrieben hat, und der Wunsch, ihm nützlich sein zu können in dem Ungemache, das ihn betroffen.“

„Wir Beide wissen Ihre uneigennützige Freundschaft wohl zu schätzen, Herr Kayser,“ sagte Marie mit etwas unsicherer Stimme.

„Ich wünschte, Sie gäben mir Gelegenheit, Ihnen dieselbe durch die That zu beweisen,“ entgegnete er, ohne sich von der Stelle zu bewegen. „Bei Ihrem Bruder wüßte ich allenfalls, wo ich anzugreifen habe, um ihm zu helfen – aber Ihnen, Fräulein Marie, Ihnen, die, wie ich fürchte, mit Schatten der Vergangenheit kämpft und die, wie der Augenschein lehrt“ – er deutete auf die Gegenstände, mit welchen Marie sich beschäftigt hatte – „an den Sorgen der Gegenwart nicht genug hat, sondern durch einen ganz unverzeihlichen Reliquiendienst schmerzlichsüße Erinnerungen vergangener Tage wieder lebendig zu machen scheint – Ihnen stehe ich ganz hülf- und rathlos gegenüber.“

Er hatte ruhig zu sprechen begonnen, aber im Verlaufe seiner Rede hatte sich seiner eine zornige Erregung bemächtigt. Ein eifersüchtiger Groll gegen den Gegenstand jener schmerzlich-süßen Erinnerungen, die er bei Marie voraussetzte, regte sich in seinem Herzen und vibrirte in seiner Stimme. Er schien plötzlich vergessen zu haben, daß er sich selbst als anspruchslosen, hülfsbereiten Freund angekündigt hatte – wie ein Beleidigter, fast wie ein Ankläger stand er ihr gegenüber.

„ Sie sind im Irrthume, mein Herr,“ sagte Marie, die sich durch seinen Zorn seltsam eingeschüchtert fühlte, „meine Thränen gelten keinem alten Kummer – es ist ein neuer, der mich heimgesucht hat!“

„Bezieht er sich auf Ihren Bruder, oder ist er etwa so zarter Natur, daß er mir nicht anvertraut werden kann?“ fragte er mit mißtrauischem Grollen.

In Marie wollte sich bei diesem rücksichtslosen Inquiriren ein Gefühl gekränkten Stolzes regen. Aber als sie ihn anblickte, lag auf seinem Gesichte so deutlich der Ausdruck gespannter Erwartung und fast ängstlicher Theilnahme, daß sie beschloß, ihm ihr Vertrauen zu schenken.

„Ich habe einen Brief von Richard, meinem jüngeren Bruder, erhalten,“ sagte sie, „einen Brief, der mich in große Angst und Sorge versetzt hat. Sie können es nicht wissen,“ fuhr sie fort, während ihre Stimme vor unterdrückter Bewegung zitterte und sich wieder Thränen in ihren Augen sammelten – „Sie können nicht wissen, welch ein Sorgenkind Richard seit seiner frühesten Kindheit für mich gewesen ist. Er ist mehrere Jahre jünger als ich, und da wir die Eltern frühe verloren, habe ich ihn groß gezogen und mehr wie eine Mutter, als wie eine Schwester für ihn gefühlt. – Wie stolz war ich auf ihn, als er zu einem schönen, kräftigen, lebensfrischen jungen Manne heranwuchs! Und wenn ich mit ihm über die Straße ging, und die Blicke aller Vorübergehenden bewundernd auf ihm ruhen sah, dann vergaß ich, daß meine eigene Jugend hinging, daß die Jahre, die ihn zum Ideal jugendlicher Mannesschönheit reiften, mich alt und einsam machten.“

Ihre Stimme brach in Schluchzen, und sie wandte sich ab und verhüllte ihr Gesicht. In Kayser’s Mienenspiel ging während dessen eine auffallende Veränderung vor. Je reichlicher Mariens Thränen flossen, desto mehr verschwanden die Wolken von seiner Stirn, und als ihre schmerzliche Bewegung sie am Weitersprechen hinderte, ging sogar ein Lächeln über sein Angesicht. Mit der Miene eines Mannes, der es sich behaglich und heimisch machen will, legte er Hut und Stock bei Seite und rieb sich vergnügt die Hände.

„So,“ sagte er, „jetzt bin ich auf dem Laufenden. Jetzt weiß ich, um was es sich handelt. – Mit der Gegenwart will ich einen Kampf aufnehmen, aber vor den Schemen der Vergangenheit hätte ich Reißaus genommen. Ihr Bruder ist Officier, hübsch, elegant, leichtlebig – wie? Er hat Schulden gemacht, flott gelebt, bis es nicht weiter ging – ist es so? Und nun soll die Schwester helfen oder es steht Cassation oder doch so Etwas zu erwarten – he?“

(Fortsetzung folgt.)




Jagden in der Steppe.
Von Brehm.


Seit einigen Tagen befanden wir uns in Semipalatinsk, der größten Steppen- und der Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Von Omsk an hatten wir die Steppe durchzogen, ohne eigentlich etwas von ihr zu sehen, ohne sie kennen zu lernen. Denn noch hatten wir das Thal ihres größten Flusses, des Irtisch – mit den Gewässern Westeuropas verglichen, eines gewaltigen Stromes – nicht verlassen. Jetzt rüsteten wir uns zur Steppenreise.

  1. Vorlage: 2 x „ob“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_684.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)