Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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bis in die Ebene von Kars die allenthalben ihre Lager zurücklassenden Russen verfolgte. Das wichtigste Resultat aller dieser Siege war die Entsetzung von Kars, dessen Besatzung Moukhtar Pascha schon am 7. Juli durch 4000 Mann verstärken konnte.
Großfürst Michael verließ bei solchen Aussichten das Lager vor Kars sofort – General Tergukassoff konnte bei seinem Rückzuge die Stadt Bajazid nicht wieder besetzen – eine „informatorische Mittheilung aus Petersburg“ erkannte, daß die drei russischen (bisher so siegesgewiß vorgedrungenen) Truppenkörper gegen den unterschätzten Feind zu schwach seien – und den Zeitungen war plötzlich „über die vollständige Unfähigkeit des russischen Commandos in Armenien gar kein Zweifel mehr möglich“, – während Midhat Pascha in Wien die Siege der Türken dem Organisationstalente des Statthalters von Erzerum und der Feldherrntüchtigkeit Moukhtar Paschas zuschrieb.
Bekanntlich haben die Russen sich vollständig auf ihr eigenes Gebiet zurückgezogen und die Türken es nicht unbeträchtlich überschritten; ebenso bekannt ist, daß die Russen wieder zur Offensive übergegangen sind. Das letzte der vielen Telegramme Moukhtar Paschas berichtet vom 18. August einen neuen Sieg über die Russen zwischen Bezin und Zaider, nach welchem die Russen tausend und die Türken hundertfünfzig Mann verloren.
Wir haben, wie oben gesagt ist, nach den Zeitungsberichten diese Angaben zusammengestellt. Da aber auf beiden Kämpferseiten die scheußlichste Grausamkeit auch in der Behandlung der Wahrheit geübt wird, so müssen wir es der Zukunft überlassen, klar zu stellen, wie viele der mitgetheilten Sieges- und Charakterzüge unseres Gegenstandes sich als richtig erweisen werden. Bis dahin hat er mit Wallenstein wenigstens das Eine gemein:
„Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“
Neues von Goethe's Friederike. Im denkwürdigen Pfarrhause des elsässischen Dorfes Sessenheim – nicht „Sesenheim“, wie der Ort nach dem Vorgange Goethe’s irrthümlich genannt wird – waltet seit sechszehn Jahren Herr Philipp Ferdinand Lucius seines Amtes als wackerer Pfarrer der dortigen protestantischen Gemeinde. Die Stellung ist von altersher eine behagliche, und von dem Hauptleiden vieler Dorfgeistlichen, der Vereinsamung und dem Mangel an Verkehr mit der Außenwelt, hat der Mann bis jetzt nur das Gegentheil zu empfinden gehabt. Ist doch sein Ort wie sein Haus immer mehr und mehr ein Wander- und Wallfahrtsziel jenes modernen Heroen- und Verehrungscultus geworden, in welchem das Gemüth unserer ringenden und gährenden Zeit gern Erquickung und Trost sucht für manches rauhe Ungemach und Wirrniß ihrer Wirklichkeit. Aus der Nähe und aus der Ferne, aus allen Gegenden und Ländern Deutschlands und des Auslandes kommen fortwährend zahlreiche Pilger nach Sessenheim, um andächtig auf den Stätten zu weilen, wo vor nunmehr länger als hundert Jahren der erhabenste dichterische Genius unseres Volkes den kurzen Traum seiner ersten wahren Jugendliebe geträumt. Seit Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ so wunderbar innig und zugleich so reuevoll von seiner Liebe zu der Sessenheimer Friederike, von ihren Angehörigen und ihrer Heimath erzählte, ist der sonnige Glanz und Reiz dieses Frühlings- und Sommeridylls nicht wieder aus den Erinnerungen seiner Verehrer geschwunden. Kaum hat er wohl selber geahnt, daß er mit diesem Bekenntniß einen so mächtigen Zauber in die Seelen strahlen und dem obscuren Oertchen einen Ruhm verschaffen würde, als ob dort Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung sich zugetragen hätten.
Der Pfarrer von Sessenheim befindet sich also auf einem sehr stark ausgesetzten Posten und muß den Pflichten eines Nebenamtes genügen, das der unablässige Zuspruch der Fremden in seinem Wohnhause ihm auferlegt. Einem Handwerkstheologen des gewöhnlichen Schlages würde das lästig werden, Herr Lucius ist aber glücklicher Weise ein ideal gerichteter, geist- und gemüthvoller, von Grund aus deutsch gebildeter Mann, der den vielen an ihn gerichteter Fragen von vornherein eine eigene, dem Studium deutscher Wissenschaft und Literatur erwachsene Empfänglichkeit entgegenbrachte. Die Fragen ermüdeten ihn nicht, sondern spornten nur seine Wißbegierde und seine kritische Begabung zu so emsigen Nachforschungen an, daß er schon 1871 seinen ersten gewichtvollen Beitrag zur Klarstellung der Friederiken-Episode in der „Gartenlaube“ veröffentlichen konnte. Gern erinnern wir uns noch der lebhaften Theilnahme, mit welcher diese interessanten Mittheilungen damals aller Orten begrüßt wurden. Seitdem ist aber dem Verfasser allmählich wiederum eine große Anzahl bisher noch unbekannter Nachrichten zugegangen, und es sind dadurch seine früheren Berichte so weit ergänzt, seine bisherigen Ermittelungen und Prüfungen so weit vervollständigt worden, daß er nunmehr an eine ausführliche Verarbeitung des ganzen ihm zu Gebote stehenden Materials denken konnte. Unter dem Titel „Friederike Brion von Sessenheim“ ist die Darstellung soeben (bei Heitz in Straßburg) herausgegeben, und man darf ihr wohl prophezeien, daß sie fortan unter den Erscheinungen der großen Goethe-Literatur einen hervorragenden Ehrenplatz behaupten wird.
Herr Lucius behandelt seinen delicaten Gegenstand mit der nüchternen Sorgfalt und diplomatischen Genauigkeit eines gewissenhaften Historikers, aber sein Forschersinn ist zugleich ein feiner und seelenvoller; er läßt den Blumen, die ihm auf seinem Wege entgegenblühen, alles Süße ihres Duftes und zerrupft sie nicht mit plumper Hand. Durch das nach strengster Wahrheit suchende Buch weht vielmehr ein Hauch sinniger Lieblichkeit, ein Ton milder und erwärmender Anmuth, welcher der Natur des Stoffes durchaus entspricht. Wird Goethe nicht von schwerer Verschuldung freigesprochen, so ist der Autor doch weit entfernt, an den zu den höchsten Aufgaben berufenen Genius die Maßstäbe des trivialen Moralisten und engherzigen Sittenrichters zu legen. In ernsten Worten läßt er über das Maß dieser Verschuldung sich aus, aber mehr noch als in den darauf bezüglichen Stellen liegt das Gericht über die Handlungsweise Goethe's in dem ergreifenden Eindrucke der ganzen Schilderung. In Bezug auf die Stärke, den Adel und Hochsinn des Charakters sehen wir den aufgehenden Stern des Dichterjünglings überstrahlt von der schlichten Herzenstiefe und Entsagungskraft des holdseligen Landmädchens, die ihn bezaubert und der er in Momenten unbedachten Seelenrausches für immer das Herz gebrochen hatte. Sollen wir eine Sühne dieses Verhängnisses in der Unsterblichkeit Friederikens finden, die sie mit dem Opfer ihres ganzen Lebensglückes bezahlte, sollen wir diese Sühne in dem Umstande finden, daß es der Abglanz von dem Wesen des Sessenheimer Pfarrerkindes ist, der immer wieder den dichterischen Frauenbildern Goethe's ihren unvergänglichen Reiz verleiht, während er selber niemals wieder das Glück und den Frieden einer wahren Liebe gefunden hat?
Zu solchen Betrachtungen bleibt uns an dieser Stelle kein Raum; Anregung dazu ist in dem ebenso anspruchslosen wie schönen Werkchen von Lucius hinlänglich gegeben, dem wir die weiteste Verbreitung wünschen, da es nach der literarischen, wie nach der poetischen und sittlichen Seite hin eine wohlthuende Wirkung üben wird. Auch äußerlich hat der Inhalt durch die Sorgfalt der Verlagshandlung ein besonders anziehendes Gewand empfangen, und als interessantes Curiosum sei noch erwähnt, daß das so geschmackvoll ausgestattete Buch in derselben Officin hergestellt worden ist, wo einst bei dem Urgroßvater des Herrn Heitz die Straßburger Doctor-Dissertation Goethe's gedruckt wurde.
Warnung vor Vergiftung. Durch alle Zeitungen geht der Rat, daß man sich als des kräftigsten Mittels zur Vertilgung des Coloradokäfers einer Mischung von Pariser Grün oder dem sogenannten Schweinfurter Grün bedienen solle, indem ein Eßlöffel voll davon, mit Mehl, Asche, Kreide oder einem anderen Pulver zusammengerieben, über die befallenen Kartoffelfelder ausgesiebt wird. Dabei ist jedoch nicht gesagt worden, daß dieses Schweinfurter Grün (arseniksaures Kupferoxyd) zu den furchtbarsten Giften gehört, und wenn gebildete Leute das auch wohl wissen, so giebt es doch viele Ackerwirthe, welche davon keine Ahnung haben. Das Ausstreuen des Giftes darf nur mit großer Vorsicht geschehen, und am allerwenigsten soll man es, wie vorgeschlagen ist, durch Kinder und Frauen auf die Felder aussieben lassen. In Amerika, wo solch Giftgemisch bereits im großartigsten Maßstabe im Gebrauche ist, wird es meistens vermittelst eigens dazu erfundener Apparate über die Fluren ausgesiebt, und wenn der Käfer über kurz oder lang auch bei uns in großen verheerenden Schwärmen auftreten sollte, so werden solche Vorrichtungen auch hier wohl eingeführt und käuflich zu haben sein. Aber selbst ein sogenannter Giftstreuer, eine siebartige Büchse, die an einem langen Stocke befestigt ist, oder ein blasebalgartiges Instrument, bergen trotzdem immer die Gefahr, daß bei Nichtbeachtung der Windrichtung, bei zu kurzen Stielen etc. der die Käfer vernichtende Arbeiter auch stets sich selber mehr ober minder gefährde. Ich wundere mich daher darüber, daß man den Arsenik nicht viel einfacher in Auflösung für diesen Zweck benutzen will. An Stelle der theuren Malerfarbe könnte man doch ganz einfach eine schwache Auflösung von dem viel billigeren weißen Arsenik vermittelst feinlöcheriger Brause- oder Gießkannen über die Kartoffeläcker spritzen lassen. Der Erfolg würde sicherlich derselbe sein, während eine Gefährdung der Arbeiter nur bei grober Fahrlässigkeit eintreten könnte. Die Arsenikauflösung müßte den Landleuten aber nur bereits fertig in den Apotheken verabfolgt und die dringende Mahnung hinzugefügt werden, daß die Flaschen, in denen das Giftwasser sich befindet, sowie die Gießkannen, in denen es ausgespritzt wird, durchaus für keinen andern Zweck benutzt werden dürfen.
Ein historisches Wunder. Der durch seine Farbenuntersuchungen bekannte Naturforscher Chevreul theilte vor einigen Wochen der Pariser Akademie die Erklärung eines Wunders mit, welches einst die Bewohner des Louvres mit Schrecken erfüllt hat. Einige Tage vor der Bartholomäusnacht spielte Heinrich von Navarra, der Bräutigam der Bluthochzeit und spätere König von Frankreich, mit dem Herzog von Alençon und dem Herzog von Guise, dem man wegen seiner Gesichtsschmarre den Beinamen „le Balafré“ gegeben hatte, Würfel im Louvre, als es plötzlich den Spielenden vorkam, als ob die Würfel blutig seien, was ihnen bei der bereits herrschenden schwülen Atmosphäre sehr unheimlich erschien. Man hat nachher gemeint, die Ereignisse hätten ihre blutigen Schatten vorausgeworfen, während es sich doch nun um eine Augentäuschung handelte, die man jeden Augenblick haben kann. Voltaire, der die Geschichte in seinem Buche über die Sitten der Völker erzählt, erkannte ganz richtig, daß die schwarzen Flecken der Würfel dabei ihre Rolle gespielt haben, und meinte, schwarze Flecken sähen, in einer gewissen schiefen Richtung betrachtet, überhaupt roth aus. Im Jahre 1770 bemerkte der Berliner Akademiker Beguelin, als er bei tiefstehender Sonne eines Abends die Zeitung las, daß die Buchstaben plötzlich blutroth aussahen, und er erklärte sich dies, indem er an den von Voltaire mitgetheilten Fall erinnerte, durch die rothe Färbung, welche das durch die halbgeschlossenen Lider dringende Licht annehme. Diese Erklärung ist indessen, wie Chevreul gefunden hat, falsch. Wenn man sich auf einen Stuhl in die Sonne setzt, so etwa, daß ihre Strahlen das eine Auge unter einem Winkel von zwanzig bis fünfundzwanzig Grad treffen, während man das andere Auge geschlossen hält, und nach zwei Minuten das geblendete Auge auf einen nicht direct von der Sonne getroffenen Tisch wendet, auf welchen man eine weiße und eine schwarze Feder neben einander auf eine graue Unterlage gelegt hat, erscheint die weiße Feder smaragdgrün, die schwarze roth, während das durch den Augendeckel beschienene Auge beim Oeffnen diese Farben nicht erblickt. Chevreul schließt hieraus, daß das Roth der dunklen Flecken nur die Ergänzungs- und Contrastfarbe zu dem smaragdenen Glanze ist, in welchem weiße Gegenstände (dort die Würfel) dem von der Sonne geblendetem Auge erscheinen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_594.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)