Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
|
„Janos, Ihr seid ein vollständiger Narr,“ sagt der Streckeningenieur der Bahn, welche, südöstlich von Temesvar, die unermeßlichen Getreide- und Kukuruzflächen des Banats durchzieht, zu dem mit abgezogener Mütze vor ihm stehenden Bahnwärter Nr. 128, der zugleich die kleine Personenstation Jam-Saag verwaltet; „ein vollständiger Narr, sage ich Euch; hättet selbst Nichts zu beißen und zu brocken, wenn Euch hier das Brod nicht in den Mund wüchse; vier Kinder, und nehmt den kleinen fremden Wechselbalg noch dazu! Hübsch ist das Mädel allerdings. Wie seid Ihr zu dem Unsinn gekommen?“
„Ja, Herr, das kam so. Drüben an der Flügelbahn sind Arbeiter, wälsche, bei der Marosbrücke, können nicht sprechen mit uns, aber brave Leute, hungern, um Geld zu sammeln. Lag ein Gang von ihren, Jahr voriges, vierzehn Mann hoch in Zelten mitten im Kukuruz von Kloster Zekas. Durften kein Feuer machen wegen Brand im Felde, trockenen. Kamen täglich Weiber meilenweit aus Dörfern hinüber mit Suppe, jämmerlicher. Lief Kind immer neben jungen Weib von diesen; kam sehr, sehr weit her, hübsches Kind, alt wie mein jüngstes. Saßen immer nieder auf Schwelle von Bahnhaus, ruhten aus, todtmüde. – Weinte oft das Kind – wegen Schmerz im Fuß und Schwitz und Müde. Sagt eines Montags mein Weib, was heut’ ist drüben bei Großmutter in Lagos, wo in Schule königlicher, sehr gute, meine vier Kinder – alle –. Janos, sagt sie, erbarmt mich das Kind. Gleicht es der Juscha, was drüben ganze Woche in Schule, königlicher, mit den andern. Sind wir einsam ganze Woche – willst Du, Herr, lassen wir spielen hier das Kind und essen die Woche bei uns – Sonntag mit Kindern unsrigen. Ist hübsch der Fratz[2] und gut; Pane[3] Inspector – sehen wie lacht mit Augen, schwarzen! Sage ich: laß dableiben Kind, wenn wiederkommt mit Mutter seiniger. Arme Frau küßte uns Hände, glücklich war sie, konnte sehen Fratz ihrigen täglich, und brauchte nicht zu füttern den Fratz. Wissen aber, Pane Inspector, daß kam Fieber unter Arbeiter, wälsche, Jahr voriges. Mußten geräumt werden Zelte von allen – sämmtlichen. Aber ehe geschehen konnte, starb Vater von Kind, und Mutter ihrige kam nicht wieder. Ist wohl auch gestorben – wahrscheinlich Kindchen blieb bei uns – Winter, Sommer. Wohin damit auch?“
„Hättet es bei der Bauunternehmung anmelden sollen, Janos; sie hätte es in die Heimath der Arbeiter, nach Wälschland geschickt.“
„O nein, Pane Inspector, nein – so weit – armes Wurm – lieber Fratz – Kinder meinige haben es lieb und wir auch.“
„Nun, ganz schön, Janos, mich geht es nichts an; es bleibt Euch aber lebenslang zur Last. – Wenn wir alle Kinder der Arbeiter, die am Sumpffieber sterben, adoptiren wollten! Ihr seid ein Narr. Gute Nacht. Vergeßt nicht, morgen die Casse nach Temesvar einzuliefern – werdet nicht viel darin haben – aber ’s ist Samstag. Regulativ-Paragraph siebenzehn! und überdies denkt daran, daß wir auf der Strecke die Strolche O. und K. zum Teufel jagten, die Ihr ja früher hier auf der Station hattet, und die Bescheid wissen; auch daß Cassenlieferungszeit ist. Die Kerls stehlen unverschämter, als es selbst hier in Ungarn zulässig ist. Paßt auf, daß sie Euch keine Visite machen. Gute Nacht, Janos!“
Die Dräsine des Strecken-Ingenieurs, von sechs kräftigen Armen getrieben, verschwindet im Abenddunkel und dem leichten Nebeldunste, der aus den hohen Kukuruzfeldern neben der Bahn blattduftig und durchsichtig sich über die Bahn legt. Janos bedeutet Alles in Allem auf der kleinen Station, die eigentlich nichts als ein halbverlorener Haltepunkt auf öder Bahnstrecke ist, von nur zwei Zügen täglich befahren. Er expedirt den Getreidejuden, der dem grundbesitzenden Cavalier, dem die Schulden an der Kehle stehen, das Getreide für ein Sündengeld auf dem Halme abgeschwindelt hat, oder den Schweinehändler, der die Kukuruzmast seiner „Waare“ inspicirt, oder den Wälderausschlächter, der eben wieder ein Stück Gesundheit, Klima und fruchtbares Wetter in Gestalt eines herrlichen Urwaldes, quadratmeilengroß, in Eisenbahnschwellen und Faßdauben verwandelt hat; oder den Sohn der Pußta, der in den nächsten Flecken zur Stuhlrichterwahl saufen geht – aber wenige von alledem fallen auf der abgelegenen Station auf die Bahn. Die Casse ist daher klein, und dem wackern Janos genügen zur Hülfeleistung ein alter Weichensteller, der einst bei einem Zusammenstoße aus einem „feschen Conducteur“ zu einem armen Krüppel wurde, und des Janos tüchtiges Weib, eine Sachsin aus Siebenbürgen, die lesen und schreiben kann und Herz und Kopf auf dem rechten Flecke hat. Heut ist sie zur Verproviantirung der wie eine Insel im Kukuruzmeere liegenden Station zur Stadt gefahren; der alte Weichensteller Ferenz hat Tagesdienst gehabt und Janos ist mit dem Kinde allein.
Im „Kukuruzmeere“ wahrlich liegt die Station! So weit das Auge reicht in Nord, Süd, Ost und West, Nichts als das übermannshohe Geröhricht der edlen Pflanze. Vom röthlichen Lichte des tiefstehenden, unvollkommenen Sonnenwendemondes im Südosten herab geht ein leichter Nachtwind über die unermeßliche Ebene durch das fruchtbare Ried hin, in dem der Büffel, der vom Sumpfufer der Berzaba heraufsteigt, schmale Pfade tritt, wie im baumhohen Grase der Savannen Amerikas. Der Kukuruz birgt hier den Betyaren und den Büffel so gut, wie das hohe Gras dorten den Bison und die scalphungrige Rothhaut. Und der Wind läßt hier nicht sanfte, weiche, duftende Wogen am Waldrande branden, wie in den blonden Fluthen des Getreides, sondern nur hohe Blüthenrispen, spitz und pfeilartig, millionenfältig glitzern und sich neigen, wie ebenso viel Hellebardenspitzen einer wandernden Heerschaar. Und drunter, im dunklen Gewirre der langen scharfen Blätter, blitzt es hier und da auf, wie von blanken Klingen und klirrt es leise, wie diese thun, wenn sie sich kreuzen. Und da und dort ragt es dunkel und schwarz empor, wie Masten von in diesem Meere gesunkenen Schiffen, an denen das Mondlicht blau herabrinnt. Es sind die Schwengel der Ziehbrunnen, die Wahrzeichen der ungarischen Ebene. Und die Luft ist voll, weit und breit, vom weichen behaglichen Gequake zahlloser Frösche („ungarische Nachtigallen“ nennt sie der Spöttermund der „Schwaben“[4]), die in den Wassergräben der Bahn, in den Lachen der Moorniederung hausen. Nur wenn, wie auf ein allgehörtes Commando, dies Getön, welches das Ohr seiner Unablässigkeit wegen nicht mehr hört, schweigt, wird man gewahr, daß es eben die Luft noch füllte, und hört das leise Rascheln und Klirren im Kukuruz und das ferne Brüllen der Büffel an der Theiß.
Die Eisenbahn hat „eine Furche gezogen“ in die Unermeßlichkeit des „Kukuruzmeeres“. Die Telegraphendrähte schweben darüber, wie blitzende Spinnweben im Mondlicht, und ferne Lichtpunkte künden, daß hier Menschen auf Menschen harren.
Das ist das Bild der ungarischen Ebene, grandiös in seiner schlichten Unermeßlichkeit wie Prairien, Pampas, Llanos und Savannen, und doch so viel freundlicher, menschennäher als jene; wie das unendliche ausgebreitete Nährfeld anmuthender ist, als das unabsehbare Jagdgebiet.
Die Zeit für den letzten der wenigen Züge, welche die Station passiren, ist da. Janos nimmt das Kind auf; den kleinen Gefährten seiner Einsamkeit, den er bis dahin, des Kühlwerdens der Nachtluft froh, spielend und schäkernd auf den Knieen gehalten, und trägt es in sein kleines Bett, das in der luftigen Wachstube steht, deren zwei Fenster, zum Ausguck, rechts und links auf die Bahn gehen. Dann zündet der treue Mann die Lampe auf dem Tische an, die seinem einsamen Nachtmahle
- ↑ Beruht auf einer wahren Begebenheit. Die Eisenbahnkundigen mögen den leichten Zwang entschuldigen, der den Dienst- und Betriebsverhältnissen um der novellistischen Form willen angethan wurde. Die Ortsnamen sind fast sämmtlich fingirt.D. Verf.
- ↑ Oesterreichisch für „Kind“.
- ↑ Slavisch: „Herr“.
- ↑ So nennen die Ungarn alle Deutsche.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_554.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)