Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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die Hand des Meisters ihr zu entlocken! Wie wenige Buchstaben hat das Alphabet und welche Welt von Wörtern und Gedanken entsteht aus ihren Zusammensetzungen!
So ist es auch mit dem Schachspiel! Die Figur wird zum Zeichen herabgesetzt für die Combinationen des menschlichen Scharfsinns, der auf diesem Brette immer neue Triumphe feiert; ja, dies schlichte Holzbrett verwandelt sich in einen Zauberspiegel, der mit magischer Kraft die Bilder der geistigen Physiognomien und Eigenschaften zurückstrahlt. Da sehen wir im Spiele sich abspiegeln den dumpfen, beschränkten Sinn, der am Hergebrachten hängt und augenblicklich festen Boden verliert, wenn der Gang des Spieles eine ungewöhnliche Wendung nimmt; da sehen wir die Aengstlichkeit, welche nichts zu opfern wagt, um zu gewinnen, sondern krampfhaft ihren Schatz zu wahren sucht, gerade in solcher Weise aber ihn verliert; da sehen wir den sicheren Ueberblick und die unerschütterliche Ruhe, die alle Folgen stets erwägt; dort wieder den kühnen Angriffsmuth, der rücksichtslos vorgeht und durch Ueberraschungen zu wirken sucht; endlich die geniale Combination des Meisters, die gänzlich Unvorhergesehenes mit plötzlicher Inspiration durchführt und deren Schwung von der Schwierigkeit der Verwicklungen beflügelt wird, wie der Schwung eines echten Dichtertalentes von den Schwierigkeiten des Metrums und der geforderten Reimfolge der Strophen.
Ja, wer die großen Mittel und großen Zwecke des Krieges für einen Vergleich zwischen der Strategie der Schlachtfelder und der Schachfelder nicht mitbeachtet, sondern nur die Bedeutung der geistigen Thätigkeit, nur allein des combinirenden Scharfsinnes, auf beiden Gebieten des Kampfes, in Anschlag bringt: der muß zugeben, daß sich hier die Wage zu Gunsten des Schachspielers neigt. Ein tapferer General wirkt freilich auch noch durch die moralische Macht und steht mitten im Schlachtenfeuer; aber mit seinen Divisionen und Brigaden, mit seinen kühnsten Märschen und Flankenangriffen kann er nicht entfernt jenen Reichthum an scharfsinnigen Varianten erschöpfen, welcher sich dem genialen Feldherrnblicke des Schachspielers erschließt, wenn er seine so verschiedenartig wirkenden Kräfte in’s Feuer führt.
Es ist eine Freude, dem Spiele Anderssen’s zuzusehen: nichts von Aengstlichkeit, von vibrirender Unruhe; aber auch nichts von jener krampfhaften Anstrengung, mit welcher manche Spieler ihr Gesicht, mit Ausnahme der Augen, in ihren Händen vergraben und den Kopf auf ihre beiden Arme stützen; man sieht nur eine seine geistige Arbeit auf seinen Zügen spielen. Seine Einleitungen sind alle correct und sicher, folgen der Ueberlieferung, den jüngsten Resultaten der Forschung, halten sich aber von Improvisationen frei. In der Mitte des Spieles, wo ein reicher Schatz leichter oder schwerer zu erhaschender Möglichkeiten sich dem Spieler zu erschließen scheint, ist Anderssen’s Spiel am genialsten; wohl aber kann es hier vorkommen, daß eine überraschende und glänzende Variante, nicht bis in alle ihre Folgen durchgedacht, daß ein vielwagender Angriffszug den Meister mehr verlockt als eine ruhigere Entwickelung und daß er so, einem hervorragenden Schachspieler gegenüber, in den Nachtheil kommt. Die Schlußspiele dagegen weiß er mit unüberwindlicher Correctheit durchzuführen und oft selbst ein früheres Versehen durch die überlegene Feinheit, mit der er diese Filigranarbeit des Spieles ausführt, wieder gut zu machen.
Ein Meisterturnier, ein Hauptturnier und mehrere Nebenturniere waren zur Jubelfeier veranstaltet, sodaß Spieler von verschiedener Stärke ihr Glück versuchen und die gleich starken um den Preis kämpfen konnten. Bei dem großen Festessen im Trianonsaal des Schützenhauses wurde Anderssen ein Ehrengeschenk übergeben, bestehend in einer Ehrensäule, auf welcher oben der beschwingte Genius des Schachspiels steht, in der einen Hand den Kranz, in der andern ein Schachbret haltend, während auf dem Postament die Widmung und die Chronik der Siege eingeschrieben sind, welche der Meister davongetragen hat. Das Festessen hatte indeß noch ein glänzenderes Resultat, als sonst mit solchen epikuräischen und rhetorischen Freuden verbunden zu sein pflegt; es wurde in lebhaften Berathungen und Debatten die Gründung eines deutschen Schachbundes beschlossen, mit wechselndem Vorort und ein- oder zweijährigen Zusammenkünften. Bis jetzt bestehen gesonderte Schachbunde, ein westdeutscher, ein süddeutscher, ein mitteldeutscher: die Vereinigung aller zu einer großen Gemeinschaft, die unter dem Zeichen des Jubilars Anderssen sich vollzog, ist im Kleinen ein erfreulicher Triumph deutscher Einigkeit.
So feierten die deutschen Schachspieler in dem Meister zugleich das Spiel selbst, das dem Ernst so nahe liegt, sich aber von ihm durch seine ganz selbstgenügsam-geistige Arbeit und jene höhere Zwecklosigkeit unterscheidet, welche ja auch den Werken der schönen Kunst eigen ist.
Bei der Festtafel, welche durch manche sinnige ernste und heitere Reden gehoben wurde, und bei welcher Dr. Max Lange, mit Heydebrandt von der Lasa der größte deutsche Theoretiker des Schachs, eine hervorragende Rolle spielte, während Anderssen selbst mit gewohnter Bescheidenheit die Huldigungen der Schachgenossen entgegennahm, leitete der Unterzeichnete als Vorsitzender die Ueberreichung der Ehrensäule zur Feier des Jubilars mit einigen Versen ein, die bereits durch Leipziger Blätter bekannt geworden sind.
Das Neue wird gewöhnlich in seinen Eigenschaften überschätzt. Von der Cholera glaubte man in der Zeit, als sie zuerst in Europa auftrat, daß sie den größten Theil der Menschheit dahinraffen und eine Entvölkerung zur Folge haben würde. Die Kartoffelkrankheit, welche durch den Pilz Peronospora infestans veranlaßt wird, sollte den Anbau der Kartoffelpflanze für die Zukunft unmöglich oder doch mindestens unrentabel machen. Aber weder die Gerüchte über die Cholera, noch die über den Kartoffelpilz haben sich als wahr bestätigt. Derartige Beispiele ließen sich noch viele anführen. Seit dem vorigen Monate nun ist es der Kartoffelkäfer, auch Coloradokäfer (Chrysomela [Doryphora] decimlineata) genannt, welcher in seinem Thun und Treiben überschätzt und gewissermaßen beleidigt worden ist. Ueberall, wohin man hört, wird er als ein Wesen beschrieben, das den Kartoffelbau gänzlich unsicher mache, in allen Zeitungen und Dorfanzeigern finden sich Notizen über seine große Gefährlichkeit für die Landwirthschaft. Kurzum, der Kartoffelkäfer wird als geschworener Feind der Kartoffelpflanze hingestellt. Wie viel Wahres und Falsches an dieser Ansicht über den Kartoffelkäfer ist, das zu untersuchen, haben wir zum Gegenstand der nachfolgenden Darstellung gewählt. Zunächst möge ein kurzer Ueberblick über die Geschichte des Kerfs folgen.
Die ersten Nachrichten von dem Kartoffelkäfer stammen aus dem Jahre 1825. Man fand ihn damals in der Gegend des Felsengebirges (Rocky Mountains) in Nord-Amerika auf einer wildwachsenden Pflanze, welche, wie die Kartoffelpflanze, zu der Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae) gehört. In der Zeit, als man sich in dieser Gegend ansiedelte und den Kartoffelbau hier einführte, verließ der Käfer seine frühere Nährpflanze und bevorzugte nunmehr die Kartoffelblätter. Diese Vergrößerung der Nahrungsquelle hatte natürlich seine stärkere Vermehrung zur Folge, und es wurde das Insect laut amerikanischen Berichten zur allgemeinen Landplage, indem es sich nach allen Himmelsrichtungen verbreitete. Die ersten Klagen über die Schädlichkeit dieses Kerfes gingen vom Staate Nebraska aus (1859). Zwei Jahre darauf überschritt er den Fluß Missouri und schädigte die Kartoffelfelder von Iowa. Von hier wanderte er über den Fluß Mississippi (1866) und vernichtete die Kartoffelculturen in Wisconsin, Illinois und Kentucky. Einige Jahre später (1870) schwärmte er, theilweise durch Nahrungsmangel dazu getrieben, über den mächtigen Michigansee und verbreitete sich rasch in Indiana, Michigan und Ohio. Im nächsten Jahre bemerkte man ihn schon in Canada, Pennsylvanien und New-York, wenn auch nicht in so großen Schaaren, wie er in den anderen Staaten aufgetreten war. Der Kartoffelkäfer lebt in cultivirten Gegenden zwar vorzugsweise auf der Kartoffelpflanze, deren Blätter ihm und seinen Larven zur Nahrung dienen. Doch frißt er auch noch an einigen anderen Pflanzen. So hat man ihn und seine Larven noch auf verwandten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_522.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)