Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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No. 31. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Zwölf Stunden später saß ich in einem Häuschen des belgischen Dorfes Huys. Henry Flomberg saß neben mir; uns gegenüber in einer Nische lag im hochgethürmten Bett der alte Caspar Raick, der Begleiter meines „Sterns“, den die Gewalt des Wassers von mir gerissen hatte. Am Kaminfeuer saßen ein Matrose, der einzige Gerettete der Mannschaft, und Herr Delheid, ein Kaufmann aus Gent. Der Matrose saß mit gebeugtem Haupte und Thränen fielen in seinen Bart – sein Sohn lag auf dem Grunde des Meeres.
Unser Schiff war von einem plötzlichen Sturme aus seiner Linie gerissen und gegen ein anderes, schwerbeladenes, von Dünkirchen kommendes geschleudert worden; sein Vordertheil ward gänzlich zerschmettert. Das Schiff, an dem das unsrige zu Grunde ging, brachte uns, die Geretteten, bei Tagesanbruch an’s Land, fünf Meilen oberhalb Ostende. Mein Freund, welcher, nachdem ich ihn geweckt hatte, auf's Verdeck geeilt war, um sich zu überzeugen, was geschehen sei, wurde augenblicklich von der Wucht des anstürzenden Wassers zu Boden geworfen und verlor die Besinnung. Als er wieder zu sich kann, befand er sich schon auf dem andern Schiffe und mit ihm waren Caspar Raick und – mein Stern. Erst später brachte man mich zu ihnen, allein ich war noch ohne Bewußtsein. Als wir an’s Land gebracht wurden, schlug ich zum ersten Male die Augen auf; der Freund trug mit Hülfe eines Herrn, den ich nicht kannte, eine Frau, deren Gewänder und Haar trieften. Mit großer Anstrengung ging ich zu der Gruppe und blickte in’s Angesicht dieser Frau – sie war es, mein Stern, und das Leben kehrte vollströmend in mich zurück. Henry sah mich seltsam an, prüfend und dann mit einer Art von Grauen und Mitleid. Endlich sagte er stotternd: „Du bist’s, Du, Eugen?“
„Bin ich denn so verändert?“
Er antwortete mir nicht. Wir gingen nun, eine kleine, traurige Karawane von sechs Menschen, welche das Meer verschont hatte, während zwölf andere seine Beute geworden, auf dem Strande landeinwärts. Der Matrose führte Caspar Raick; ich ging neben Henry. Keiner sprach ein Wort. Der Morgen stieg hinter den Häusern des Dorfes herauf und warf ein weißes Licht auf den weißen Sand, der unter unsern Füßen knirschte. Als wir in die Stube des ersten Hauses getreten waren und meinen Stern, den ich künftig bei seinem Namen, Madame Venloo, nennen werde, der Frau des Fischers anvertraut hatten, welche sie in die obere Stube brachte, bemerkte ich einen Spiegel in einer Ecke und ging hinzu. Henry ergriff meinen Arm und sagte schmerzlich:
„Eugen, erschrick nicht! Dein Haar ist grau – –“
Die Fischerleute gaben uns Wäsche und Kleider, welche wir anzogen, während die unseren am Herde trockneten. Am Abend kam eine Kutsche, Henry, Herrn Delheid und mich nach Ostende zu bringen. Im Augenblicke, als wir uns zur Abreise rüsteten, trat Madame Venloo in unsere Stube. Ihr langes Haar floß wie ein Schleier auf den groben, faltigen flämischen Frauenmantel, in welchen sie gehüllt war. Ihre kleinen Füße bekleideten grobe blaue Strümpfe und Holzschuhe, in denen sie kaum gehen konnte. Aus dieser bäurischen Hülle trat ihr feines, seelenvolles Wesen wahrhaft leuchtend hervor.
Sie ging zu Caspar Raick und sprach leise mit ihm; dann trat sie mit bescheidener Haltung zu uns und sagte mit einer Stimme, welche wie Gesang war: „Meine Herren, ich glaube, wir sollen einander nicht fremd bleiben. – Sie reisen schon weg?“
Henry sagte, daß wir die Nachtpost in Ostende benutzen wollten, um gegen Mittag des nächsten Tages in Brüssel zu sein. „Wohnen Sie in Brüssel? Können wir Ihnen in irgend einer Weise nützlich sein?“ fügte er hinzu.
„Ich danke Ihnen. Ja, ich bitte Sie um eine große Güte. Wir werden in Brüssel morgen Mittag erwartet, Herr Raick kann aber unmöglich heute, auch morgen noch nicht reisen. Ich finde hier weder Papier noch Feder, um zu schreiben. Wollen Sie die Güte haben, der Tochter Herrn Raick’s und ihrer Tante, welche in Brüssel geblieben sind, unsere verspätete Ankunft anzuzeigen?“
Sie nannte nun die Straße und Hausnummer, die ich so gut kannte. Dann blickte sie uns der Reihe nach an und sagte: „Ich weiß nicht, war es einer von Ihnen, meine Herren, welcher Raick und mich von der Cabine auf’s Verdeck brachte?“
Henry und Delheid blickten erst sich, dann mich an; ich erröthete, und Henry sagte: „Du warst es wohl, Eugen?“
Ich verbeugte mich und verharrte gesenkten Hauptes, als sie mir ihre sammetweiche Hand reichte. Sie sagte: „Ich danke Ihnen,“ sonst nichts. Ich erhob meinen Blick und sah, daß sie mein graues Haar betrachtete. „Haben Sie auch eine Tochter, wie Herr Raick?“ fragte sie unschuldig. Ich glaubte zu sterben.
„Nein, Madame, ich habe keine Tochter,“ antwortete ich tonlos.
Ich war ein alter Mann, wie Caspar Raick – sie sagte es – sie!
„Madame, mein Freund hatte gestern noch braunes Haar; er ist über Nacht grau geworden,“ flüsterte ihr Henry zu.
Da nahm sie meine beiden Hände in die ihren, welche zitterten, und sagte: „Die Jugend liegt nicht im Haar, sondern
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_515.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)