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Seite:Die Gartenlaube (1877) 502.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


mir ein großer, schon bejahrter Mann auf und eine junge Frau, welche vor ihm auf einem niedrigen Bänkchen saß. Sie war in einen schwarzen Atlasmantel gehüllt, auf den ein Spitzentuch fiel, mit einer goldenen Nadel am Kopfe befestigt und auf der Brust leicht geschlungen. Sie saß so, daß ihr Profil mir zugewandt war. Was mir an diesem Profil auffiel, war der wunderschöne Rücken der Nase, welche gerade war und, ohne groß zu sein, ein wenig aus dem Gesichte vorstand, und das Kinn, dessen kaum bemerkbar zurückweichende Linie diesem Profile eine unbeschreibliche Anmuth und Sanftmuth verlieh. Ihr Haar, in der Mitte gescheitelt und an den Schläfen locker geflochten, floß unter dem Ohre gegen den Nacken hin und war so schwarz, daß es blaue Reflexe hatte. Ihr Auge war zu Boden gesenkt; ihre Hände ruhten, in einander verschlungen, auf den Knieen; unter dem Saume des Kleides streckte sich, wie unbewußt, ein feingebautes Füßchen vor, welches ein ausgeschnittener schwarzer Sammtschuh und ein blaßrosenrother Seidenstrumpf bekleideten. Sie lauschte offenbar den Tönen der Geige und zwar mit ganzer Seele. Das schwarze Spitzentuch hob und senkte sich, durch schnelle und tiefe Athemzüge bewegt. Die Weichheit und Poesie dieser Erscheinung fesselten mich; sie hatte etwas, das wohl that.

Henry’s Geige schwieg jetzt; er trat her zu mir und sagte, wie aus einem Traume erwachend: „Wo sind wir?“

In diesem Augenblicke erhob sich die Dame, auch wie aus einem Traume erwachend, und wandte uns ihr Gesicht zu. Alles Blut schoß mir zum Herzen. Es war mir, als ob mich eine Schraube im Genick faßte und niederrisse, und ich taumelte einen Schritt rückwärts. Die Dame war dieselbe, welche ich am Erkerfenster in Brüssel, mir gegenüber, gesehen hatte und die ich seitdem mit verschwiegener Anbetung in der Seele trug.

Sie ging an uns vorüber, ohne uns anzusehen; sie sah die Geige an, welche an Henry’s Hand hing. Der alte Herr, der hinter ihr gestanden, bot ihr jetzt den Arm; sie zog ein Ende ihres Spitzentuches vor’s Gesicht und ging langsam mit ihrem Begleiter auf und ab.

Henry’s Blick, welchem meine Bewegung entgangen war, folgte unverwandt der sympathischen Erscheinung.

„Sieh doch diese Gestalt! Ist sie nicht wie Musik?“ sagte er.

Die bleigrauen Streifen am Horizont klärten sich mehr und mehr; die bange Färbung des Himmels sänftigte sich. „Es ist nicht gut, daß das Gewitter sich verzieht, wir werden nun unruhiges Wasser bekommen,“ sagte der Steuermann. Die Nacht kam schnell; ihre braunen Schatten sanken sichtlich einer nach dem anderen und immer dichter und dichter herab; die Luft wurde empfindlich kühl, das Meer unruhig. Ein Matrose zündete die Schiffslaternen an; ihr schmutziges Licht glotzte unheimlich in die Nacht hinaus.

Mein Herz klopfte noch heftig von dem süßen Schrecken, den es erlitten hatte, und ich verwünschte die Nacht, die so eilig herab kam und das blasse Gesicht unter dem Spitzenschleier kaum noch errathen ließ.

„Hast Du die Dame genau angesehen? Ist sie schön?“ fragte mich Henry.

„Ich weiß nicht; ich gab nicht darauf Acht,“ erwiderte ich ausweichend.

„Es ist merkwürdig –“ fing er wieder an, „mich frappirte ihre Physiognomie, und doch weiß ich nicht, wie sie aussieht, ob sie schön oder nicht schön ist; ich habe über das Ganze die Einzelheiten vergessen.“

„Sie ist jedenfalls ein Gegensatz zu Mistreß Stephenson.“

„O, ganz entschieden ein Gegensatz,“ sagte er mit einem Tone, der fest und träumerisch zugleich war. Dann fügte er hinzu: „Arme Harriet, wie wird sie sich jetzt einsam fühlen!“

Die Passagiere, auch sie, der schwarze Stern, gingen in die Cabine hinab, an deren Wänden gepolsterte Ruhebänke hinliefen.

Henry und ich blieben auf dem Verdeck und legten uns, in wollene Decken und Pelze gehüllt, auf eine Matratze. Die Nacht wurde sehr finster; das Meer warf schwarze Wogen und phosphorescirenden Schaum in die Höhe und begleitete den munteren Gesang der Matrosen mit urweltlichen Accorden.

„Ich kenne drei Dinge, die alles Kleinliche im Gemüth zur Ruhe bringen: die Musik, das Meer und die Sterne,“ sagte Henry.

„Und die Liebe?“ fragte ich.

„O, die Liebe! Wer liebt, hat nichts Kleinliches mehr; wer liebt, der ist ein Gott!“

„Also bist Du ein Gott?“ fragte ich.

Er antwortete nicht. Wir sprachen nun nicht mehr und gingen, da die Kälte und Feuchtigkeit der Luft uns unangenehm wurden, bald in die Cabine hinab, wo im blassen Schimmer einiger Oellampen die Passagiere zerstreut lagen. Wir suchten uns eine bequeme Ecke und schliefen bald ein.

Ich erwachte, wie durch Rufe erweckt, und erhob mich. Die Passagiere schienen alle fest zu schlafen; ich weckte Henry und sah auf meine Uhr; es war zwei Uhr Morgens. Plötzlich schmetterte mich ein furchtbarer Stoß zu Boden; es fuhr durch das Schiff ein Krach, als sprängen über uns die Pforten der Ewigkeit entzwei. Der Schrei: „Wir sind verloren,“ tönte von allen Lippen. Ich raffte mich auf und tastete nach Henry – er war nicht mehr neben mir; ich blickte um mich – hinter mir stand die junge Frau. Ich legte meinen Arm um sie und zog sie zur Treppe hin.

„Retten Sie meinen Freund, den alten Mann!“ rief sie; „er hat ein Kind; ich habe Niemanden. Retten Sie ihn, ihn!“

„Ich rette Sie Beide, wenn es in meiner Macht liegt!“ rief ich, und nahm den alten Mann an der Hand. So kämpfte ich mich die Treppe hinauf, von welcher uns das Wasser entgegen kam. Die Matrosen warfen Seile herab, die wir erfaßten, und sie zogen uns so die Stufen hinan. Ich hielt meinen Stern fest umfaßt und fühlte des alten Mannes knöcherne Hand die meine verlassen und sich an dem Kragen meines Rockes festklammern. Als wir auf dem Verdeck waren, riß ich meinen Stern und den alten Mann, der mir grauenhaft am Rücken hing, vorwärts – da kam ein Berg und warf mich um. Das Wasser drang mir in Mund, Nase und Ohr; meine Hände lagen beide flach am Boden – wo, Gott, wo war mein Stern? Wo?! Der alte Mann lag auf mir. Seine Finger krallten sich in meinen Nacken und seine Zähne packten mein Haar. Jetzt kam noch ein Berg; der warf mich in die Höhe und seitwärts, dann jäh hinab. – „Das ist der Tod,“ dachte ich. Im nächsten Augenblicke schwoll das Wasser unter mir und trieb mich wieder nach oben; ich hörte schreiende Stimmen und griff um mich; meine Hand faßte ein Schiffstau, und da ich fühlte, daß es von oben herab hing und befestigt war, klammerte ich mich daran. Eine Woge schleuderte mich gegen etwas Hartes, und als sie über meinen Kopf hin gerauscht war, fühlte ich, daß ich auf festem Boden lag. Das Brausen des Meeres und das Pfeifen des Windes, die Gebete, die Flüche, die Aufschreie von Stimmen, die beinahe nichts Menschliches mehr hatten, drangen in mein Ohr wie Marterinstrumente; meine Schläfe pochten zum Zerspringen und ich gerieth in eine Exaltation, welche mir das Bewußtsein der Wirklichkeit raubte. Ich dachte, ein Planet, von Dämonen bewohnt, sei aus dem Himmelsraum herab gefallen und die Menschen lägen mit den Dämonen im Kampf. Ich öffnete die Augen – es war grauenhaft. Alles schwarz, ganz schwarz. In dieser Finsterniß hing ein rother, glühender Punkt, ein Feuertropfen – es war das Strandlicht von Ostende, allein ich erkannte es nicht. „Die Welt ist untergegangen, und ich bin gestorben,“ dachte ich; „wo nehm’ ich jetzt Flügel her, um meinem Sterne nachzufliegen?“

Eine Woge wälzte sich schwer und langsam über mich – ich erstarrte.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.
Nr. 39. Henneberger Jahrmarktsleute.

Der alte Brauch, Jahrmärkte zu halten, verdankt seinen Ursprung in Deutschland bekanntlich den Wallfahrten, Kirchweihen, Apostel- und anderen Heiligentagen. Die Besucher dieser Feste, die zum Theil aus weiter Ferne herzuströmten, suchten nicht blos Nahrung für Geist und Gemüth; sie fühlten auch das Bedürfnis, ihren Leib mit Speis’ und Trank zu versorgen. Deswegen war man schon frühe darauf bedacht, daß letztere in hinreichender Menge vorhanden waren. Bald aber wurden neben Speisen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_502.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)