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Seite:Die Gartenlaube (1877) 483.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 29.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Im Himmelmoos.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Noch geraume Zeit, nachdem er gelesen, starrte Wildl auf das Blatt und beugte sich darüber – die Spannung, die den ganzen Tag über angehalten, ließ nach; eine Thräne trat ihm in’s Auge und kugelte über Wange und Bart auf den Brief, gerade auf die Stelle, wo Engerl’s Thräne den so theuren Namen bis zur Unkenntlichkeit gelöscht hatte.

Es stand Alles wirklich so da. Je heißer seine Gedanken und Wünsche noch eben bei der Geliebten verweilt, je plötzlicher erkalteten und erstarrten sie nun, als wäre ein Guß eiskalten Wassers über schmelzendes Erz geschüttet.

„Also sie glaubt es auch,“ sagte er mit gebrochener Stimme vor sich hin. „Sie kann es auch glauben; sie hat nicht das Herz, zu mir zu halten. Dann ist auch ihre Liebe nicht die rechte; dann muß ich schon schauen, wie ich einschichtig zurechtkomme.“ Er öffnete den großen, mit bunten Blumen bemalten Kasten, der in der Kammer stand, und wollte das Blatt zu den übrigen dort aufbewahrten Erinnerungszeichen der Jugend legen; dann trat er zurück, schloß hastig die Thür und riß dafür das Fenster auf: er zerriß den Brief in Stücke und übergab sie dem Sturmwinde, der sie bereitwillig von hinnen trug.

Es war der letzte Anprall des Sturmes gewesen, der nun die Flügel sinken ließ – auch die Bewegung in Wildl’s Innern ließ nach und wurde zu einer Betäubung, welche der Ruhe glich, in welcher endlich die Gegenwart ihr Recht behauptete und Vergangenheit und Zukunft in tiefem Schlafe in einander verrinnen ließ.

Der Morgen traf Wildl bereits über der Ausführung der Vorsätze des gestrigen Tages. Der Gang zum Pfarrer war gethan, und der Rußländer hatte bereits seinen Umgang angetreten. Wildl ging dann selbst auf den Viehkauf; Beide mit ersprießlichem Erfolge: weder die Scheu vor dem halbgebannten Verbrecher, noch die Gespensterfurcht hielt vor dem Gelde Stand, das Einer wie der Andere freigebig bot und gab. Schon am andern Tage waren viele Hände im Himmelmoos beschäftigt, und zwischen den Arbeitern schritt der neue Bauer hin und wider, der inzwischen nicht um einen Tag, sondern um ein Jahr gealtert schien; so ernst, so wortkarg ging er einher. Es war etwas in ihm, was den Dienstboten wie auch den anderen Leuten eine Art Scheu einflößte. Man ließ ihn gehen und gewähren und raunte sich höchstens zu: „Der greift’s scharf an. Wollen sehen, wie lange das geht. Auf die Dauer kann er das Gewissen doch nicht todtschlagen.“

So war der October zu Ende gegangen, und der November brachte das Fest Allerheiligen und mit ihm den Allerseelentag, den Tag, an dem jede Gemeinde und jedes Haus seiner Todten gedenkt und Jedermann auf den Kirchhof geht, um die Gräber seiner Lieben und Angehörigen zu besuchen, zu schmücken und sich Gedanken darüber zu machen, wann und wie es wohl kommen werde, daß man unter den Hügeln, die man jetzt ziere, selber begraben liege. Es ist nicht blos ein sinniges, sondern auch ein schönes Fest, und es bietet einen lieblichen Anblick, wenn die Gräber, welche das Jahr hindurch über den vielen Geschäften des Hauses und über der Arbeit im Felde ziemlich in Vergessenheit geriethen, den Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit bilden. Die eingesunkenen Hügel werden aufgerichtet und neu geformt, die wankenden Kreuze befestigt, die vom Regen verwaschenen Inschriften übermalt und die verdorrten Kränze gegen neue vertauscht. Am Tage selbst aber werden die Hügel geziert, wie es zu so später Jahreszeit möglich ist. Die immergrüne Stechpalme mit ihren saftigen Blättern, das graue Bartmoos der Fichten, die steife Strohblume und hier und da eine verspätete Aster werden zum Kranze verwendet, den ländlichen Hauptschmuck aber bildet immer die korallenrothe Frucht der Hagebutte, die sich gefällig zu Kränzen und Gewinden fügt und, wenn bereits Schnee auf dem Hügel liegt, durch ihre lebhafte Farbe sich besonders freundlich von dem blanken Hintergrunde abhebt. Die schönste Zierde, zumal an Tagen, wo der Wind eingeschlafen zu sein scheint, sind freilich die Lichter, mit welchen die Gräber besteckt werden – ein Zeichen, daß das Lebenslicht des Menschen ebenso leicht vor einem Windhauche erlösche und daß die Liebe, wenn auch das irdische Licht erloschen, dennoch wie das ewige Licht ohne Ende fortbrenne und dadurch sichtbar die Gestorbenen mit den Lebenden verbinde.

Der Tag neigte sich stark zu Ende. Es war schon so dämmerig, daß die meisten Gräber bereits von ihren Besuchern verlassen waren und daß man ebenso die Schmuckgegenstände, Lichter, Ampeln und Laternen, welche man nicht dem Ungemach der Nacht und möglicher Ungebühr aussetzen wollte, bereits beseitigt hatte. Einsam, traurig und schaurig war es auf dem Gottesacker, nur der Hahn auf dem Thurme pfiff manchmal im Winde; die eisernen Kreuze rasselten, und manchmal rauschte der Fügelschlag eines Rabenpaares, das dem Walde und dem Neste zustrich. Aus den Kirchenfenstern leuchtete noch der matte Schein der ewigen Ampel, und nur in einer Ecke der Kirchhofwand kämpften noch einige kleine herabgebrannte Lichter mit der Nachtluft um ein kurzes Dasein.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_483.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)