Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1877) 410.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Eines Abends stand sie zum Ausgehen gerüstet vor ihm. „Ich werde auch einmal eine plötzliche Abreise veranstalten,“ sagte sie mit den Lippen, und diese Lippen lächelten so eigen, und ein tiefes Roth war über ihr Antlitz gegossen. „Ich will Dir aber wenigstens Lebewohl sagen.“

Er blickte sie mit großen Augen an und nahm die schlanke Hand, welche sie ihm reichte, aber er sagte nichts, sondern nickte blos. Sie ging zur Wohnung der alten Rottmanns, in die Louisenstraße.

Tief in der Nacht stand der letzte Zug, welcher zum Rhein hin abgehen sollte, formirt und mit Passagieren besetzt auf dem Bahnhofe. Die Thüren waren zugeschlagen; das Abfahrtssignal wurde jede Secunde erwartet. Da trat der Polizeicommissar Donner auf den schwach beleuchteten Perron, rief dem Zugführer etwas zu und begann mit flüchtigem Auf- und Abspringen Coupé um Coupé zu mustern. Aus einem derselben lehnte sich, den Einblick in das Innere wehrend, eine schlanke, jugendliche Frauengestalt in der Kleidung tiefster Trauer. Donner blickte ihr scharf in das Gesicht, als er an diesen Punkt des Zuges gelangte, und griff, plötzlich zurücktretend, mit höflicher Verneigung grüßend an die Mütze. Der schöne Kopf neigte sich leise zum Gegengruß. Der Zug pfiff – die Locomotive stöhnte und setzte sich in Bewegung – und noch immer, noch Minuten nach der Abfahrt, blickte das blasse Gesicht aus dem Fenster, und der Zugwind spielte mit dem schwarzen Tüll des Schleiers auf der Stirn. Dann setzte sich Milli Zehren in die Kissen und sagte zu ihrem Nachbar, einem schlanken, ältlichen Herrn mit grauem Vollbart: „Gott sei Dank, diese Gefahr wäre glücklich vorübergegangen.“ Und sie holten Beide tief Athem. –

Wieder ward es Abend. Zehren saß einsam vor dem lodernden Kamine, und der Widerschein des Flammengeflackers spielte auf seinem nachdenklich gesenkten Antlitze, während seine Finger mechanisch die weichen Quasten des Fauteuils bewegten. Frau Hornemann war ausgegangen.

Er sah nicht, wie hinter seinem Rücken leise die Portière auseinander geschlagen wurde, und hörte weder das Rascheln des schwarzen Seidenkleides, das sich leise auf ihn zu bewegte, noch den weichen Tritt der zierlichen Stiefelchen auf dem Teppiche. Aber da legte sich plötzlich eine warme Hand auf seine Stirn, und er wandte jäh den Kopf und sah dicht über sich die ernsten braunen Mandelaugen, aus denen glückverheißende Blicke wie Mairegen auf ihn fielen. Ein Sturm von Liebe brauste durch alle seine Nerven, und er sprang auf und schloß sein Weib in die Arme, bebend und mit feuchten, seligen Augen. Sie duldete es lächelnd, und ihre warmen rothen Lippen suchten die seinen – zum ersten Male.

Er gestattete nicht, daß sie den Hut und den pelzgefütterten Sammtmantel ablegte; er hielt sein Glück fest umschlungen und führte es den Teppich auf und nieder, und Keines von Beiden sprach ein Wort. So fand sie Frau Hornemann.

„Bist Du wieder da?“ fragte sie überrascht; „und wo warst Du?“

„In Holland, Mutter,“ sagte sie, träumerisch weiter wandelnd. „Ich habe den Doctor Urban zu seiner Pflicht, zu seinem Weibe und in Sicherheit gebracht. Der Frühlingswind wehte und hat die dürren Blätter einer todten Vergangenheit in den Rhein geschüttet. Urban wird sich mit Toni in London niederlassen.“

Frau Hornemann ging zum Kamine und nahm in dem Fauteuil Platz, den Zehren verlassen. Sie legte den Muff in ihren Schooß und nahm zwei Papiere aus demselben, entzündete sie an der Flamme und warf sie endlich ganz auf die Kohlen. Die Hitze trieb die Asche empor, daß die Flocken wie lebende Wesen in der lohen Gluth tanzten.

„Was haben Sie da verbrannt, Mutter?“ fragte die junge Frau.

„Den Fluch meines Lebens,“ erwiderte mit einiger Heftigkeit die Angeredete. Und plötzlich nahm sie den Kopf in beide Hände und brach in bitterliches Schluchzen aus, und die Tochter drängte sich aus dem Arme des Gatten und sank zu ihr nieder und barg das Gesicht in ihrem Schooße.

„O Karl, mein Sohn, mein Sohn!“ jammerte die alte Frau. – –

Der Canal ist heute überbaut; über den stillen, dunklen Wellen wandeln die Menschen und fahren die Wagen im Sonnenlichte. Der schnörklige Bau mit der verwitterten Doppelthür und den Erkern ist längst abgebrochen, und ein hohes, stattliches, modernes Gebäude erhebt sich, wo er gestanden. Frau Hornemann ist todt, der Commerzienrath auch; er liegt auf einem der Kirchhöfe Londons begraben – er hatte es nicht ertragen können, ohne die lustigen Augen seines Kindes zu leben, und war ihr nachgezogen. Die beiden Paare leben noch, aber sie sind alte Leute; nur in stillen, einsamen Stunden oder Nachts im Traume besucht sie manchmal ihre Jugend.

Die Revolution ist fast vergessen; die Kinder einer bessern Zeit wollen kaum noch etwas von ihr wissen. Von denen, welche den klaren, sonnig funkelnden Wein in die Gläser gießen und schlürfend seine Blume athmen– wer von ihnen fragt nach der Zeit, da der gährende Most im Fasse wühlte und seine Perlen und Blasen trieb?




Streifzüge bei den Kriegführenden.[1]
3. Bei der Torpedo-Katastrophe.


Nach langen Kreuz- und Querfahrten befand ich mich auf dem wenigstens provisorischen Kriegsschauplatze, war aber in Verlegenheit, wohin ich meine Schritte lenken sollte, um ja die Hauptaction nicht zu versäumen. Es war meine Absicht, von Bukarest nach Galatz zu gelangen, weiter als Braila ging jedoch der Zug nicht. Aus einem einfachen Grunde, einfach besonders bei den wohlbekannten und nach Gebühr beleumundeten Constructionsverhältnissen der rumänischen Bahnen. Der stürmische, heftige, achttägige Regen hatte die famose Borboschi-Brücke gänzlich unfahrbar gemacht und ein gutes Stück des Eisenbahndammes weggeschwemmt. Die Elemente hatten also übernommen, wozu die Türken zu faul gewesen sind. Die vielbesprochene Brücke, die den raschen Bahnverkehr zwischen der Moldau und der Walachei vermittelt, war zerstört und weder Civil noch Militär konnte durch. Endlos waren die Wagenreihen mit Mannschaft, Pferden und Munitionskarren besetzt; sie konnten nicht vom Fleck – und wir auch nicht. Schon hatte ich mich entschlossen, nur um dem boshaften schadenfrohen Gekicher der Bediensteten des Restaurationslocals zu entgehen, Kehrt zu machen und mit dem in einer viertel Stunde nach Bukarest abgehenden Zug diese „Concentration nach rückwärts“ zu vollziehen, als ich fühlte, wie man mir auf die Schulter klopfte. Ich drehte mich um. Welch eine Ueberraschung! Hinter mir stand, eine wohlbekannte, befreundete Figur, Herr von Z., ein Pariser Lebemann, mit dem ich öfters und bei stets angenehmen Gelegenheiten verkehrte, ein Mäcen, der im Künstlerviertel gut angeschrieben ist und mit den Spitzen der Pariser Literatur und Journalistik auf dem vertrautesten Fuße lebt. Der Held des Salons trug heute hohe Stiefel und an der Seite den breiten Pallasch. Statt der Blumen auf der Brust schmückten dieselbe mehrere im Kaukasus und in der Krim erkämpfte Medaillen. Einige Worte, die der gegenseitigen Begrüßung folgten, klärten Alles auf. Von Z., der, nebenbei bemerkt, einer großen adligen Familie Rußlands angehört, hatte den Gedanken nicht ertragen können – im besten Mannesalter und ledig – während des Sommers den gewohnten Bade-Cyklus durchzubummeln, während seine Freunde und Bekannten daheim im Begriffe waren, die Oper „Das Leben für den Czaren“ in der Wirklichkeit aufzuführen. Er war nach Petersburg geeilt und hatte es durch hohe Einflüsse durchgesetzt, in dem nämlichen Regimente, wo er vor zwei Decennien gedient hatte, einzutreten. Das Regiment lag nun in Braila. Als

  1. Der Herr Verfasser hat, wie nachfolgende Mittheilungen zeigen, unsere gelegentlich seines vorigen Artikels (Nr. 22) ausgesprochenen Wünsche ebenso freundlich wie schnell erfüllt, indem er uns als erste Berichterstattung vom Kriegsschauplatze diese unseres Ermessens sehr geschickte Schilderung eines äußerst interessanten Vorgangs einsendet.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_410.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)