Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
|
Christenverachtung sich gemildert und der Orient dem Abendlande manche Concession gemacht hatte, wurde es auch den Nichttürken erlaubt, gewisse Säle der großherrlichen Bibliothek zu betreten und von den dort angesammelten Schätzen altorientalischen Wissens Kenntniß zu nehmen. So wurden einzelne Bände aus jener berühmten Handschriftensammlung wirklich gesehen und die Sage durch den Augenschein beglaubigte Thatsache.
Freilich war damit der lebenden magyarischen Generation wenig geholfen. Man hat Etwas noch nicht, wenn man weiß, wo es ist; auch war die zweite bange Frage: was wurde in jener Wirrniß gerettet? Vielleicht ging das Werthvollste zu Grunde, und das am wenigsten Würdige entging der Vernichtung. Da die meisten jener Codices nur Abschriften waren, deren Originale in Rom etc. sich erhalten haben, so war nur ein heimisches Werk von besonders unersetzlichem Werthe für die ungarische Nation, die magyarische Grammatik des Janus Pannonius, und das aus folgenden Gründen.
Als König Matthias in wohlmeinender Absicht das energische Mittel ergriff, durch Octroyirung der lateinischen Sprache seine rauhen Pannonier mit einem Schlage unter die Culturvölker zu versetzen, hatte er dadurch seiner Muttersprache den Stempel der Niedrigkeit und Verachtung aufgedrückt. Die ausländischen Regenten, die nach ihm folgten, verstärkten diese Acht, da sie neben, oder später statt der lateinischen, ihre eigene Sprache zur herrschenden in Ungarn machen wollten. Ja, es war bis zur Mitte dieses Jahrhunderts gar nicht selten, daß ein Magnat lateinisch, deutsch und französisch geläufig handhabte, aber seine Landessprache nicht kannte. Natürlich kümmerten sich auch die Gelehrten nicht um dieselbe, und es war kein Grund vorhanden, sie weiter auszubilden; die Bauern von Debreczin, die, wie in Deutschland die Hannoveraner, den Ruhm genießen, die reinste Aussprache zu bewahren, fanden in dem überlieferten Sprachschatze Worte genug, ihre Begriffe auszudrücken. Während sich also die westeuropäischen Sprachen, die deutsche voran, in den letzten dreihundert Jahren zu hoher Vollendung ausbildeten, lag die magyarische in einen wahren Dornröschenschlaf versunken, um den der in der finnisch-tatarischen Abstammung begründete Sprachbau noch einen natürlichen Dornenzaun jedem Eindringling arischer Abstammung entgegensetzte.
Erst die Aufruhrsposaune des Jahres 1848 hat die langverkümmerte ungarische Sprache wieder aus dem Todesschlafe geweckt, und die verhältnißmäßig wenigen Jahre genügten, um den Magyaren eine Sprache zu geben, die an Reichhaltigkeit den modernen Weltsprachen gleichkommt, ja, die auf ihre Macht schon so eifersüchtig ist, daß sie gar keine fremden Atome neben sich duldet und die allgemein angenommenen technischen Ausdrücke im öffentlichen Verkehre, die Details des Eisenbahnwesens, der Telegraphie, der Schifffahrt, der Industrie, der Ingenieur- und Kriegskunst u. dgl. m. in ureigene Benennungen übersetzt hat.
Wie viel tüchtige Beamte haben um dieser Marotte willen ihren Dienst verloren – wie viel Mißverständnisse mag dieses überhastete, leidenschaftliche Treiben hervorgerufen haben! Ja, es geschieht häufig, daß ein alter, ehrlicher Ungar einen Erlaß oder eine Zustellung vom hohen Gerichtshofe gar nicht versteht, oder ein neumodisches Wörterbuch zu Hülfe nehmen muß, um einen hochtönenden Leitartikel zu entziffern.
Mitten in dieses fieberhafte Drängen nach eigener Sprache und Literatur, die schon ganz Respectables hervorgebracht hat und weitberühmte Namen wie Petöfi, Vörösmarty, Jokai aufweist, fiel zündend die Nachricht von der liebenswürdigen Absicht des Sultans, einen Theil der in Stambul befindlichen corvinischen Bibliothek nach Ofen zurückzusenden.
Jetzt endlich wird man, auf historische Documente gestützt, bestimmen können, auf welcher Höhe die magyarische Bildung zur Zeit ihrer Blüthe stand. Die ganze Nation gerieth in einen Rausch des Entzückens über die zu erwartende nationale Reliquie.
Oberstlieutenant Tahsin Bey, ein Adjutant Sultan Abdul Hamid’s, sollte das Geschenk officiell nach Pest-Ofen bringen wie ein Handschreiben desselben an den Rector der Universität besagte; aus politischen Rücksichten fand man es aber unzulässig – die „Corvina“ wurden schon in Wien dem Ministerial-Secretär Lukacs übergeben. Tahsin Bey reiste nach Constantinopel zurück, und nur die Softas, geführt vom Scheik von Jerusalem, folgten der freundschaftlichen Einladung der Pest-Ofener Studenten, einige Tage in der Hauptstadt Ungarns zuzubringen. Am 28. April traf das Geschenk des Sultans in Pest ein. Die Kiste, in welcher es sich befand, wurde vom Eisenbahnwaggon auf einen bereit stehenden offenen Wagen gestellt, durch die Stadt zur Universität geführt und dort in Gegenwart des Rectors und vieler hohen Würdenträger geöffnet. Der Kasten ist aus Eschenholz gefertigt und von innen mit rothem Sammt belegt. Darin befanden sich fünfunddreißig handschriftliche Bände, in rothen und grünen Saffian gebunden, mit dem türkischen und Corvinus' Wappen geziert, doch nur elf davon sind unzweifelhafte Corvina, und die erwarteten und erwünschten Werke des Janus Pannonius sind nicht darunter. So hat die Gabe wohl großen bibliographischen Werth, aber nicht die für die Wissenschaft und speciell für die ungarische Sprach- und Geschichtsforschung gehoffte Bedeutung.
Trotzdem wurden großartige Vorbereitungen zum Empfange der Softas getroffen die am 29. April eintreffen sollten. Schon um 10 Uhr Vormittags waren die Deputationen der verschiedenen Körperschaften aus der Hauptstadt und den Provinzen, die Sendboten der Akademien, die Bürger und Bauern-Banderien (Berittene im Nationalcostüme) mit türkischen Cocarden an den Kopfbedeckungen auf dem Sammelpunkte erschienen, und der feierliche Zug setzte sich gegen den Bahnhof in Bewegung. Die Straßen, durch welche der Zug sich bewegte, hatten festlichen Schmuck angelegt. Als das Signal der Ankunft ertönte, durchbrausten stürmische Eljen- und Jassaschinrufe die Halle. Die angekommenen Gäste wurden von den Nächststehenden umarmt und von dem Studenten Tanko[WS 1] in türkischer Sprache als „Brüder“ bewillkommnet. Als der Scheik in derselben Weise erwiderte, erreichte der Jubel des Volkes den Höhepunkt.
Dies die in wenige Worte zusammengefaßte Beschreibung der Empfangsfeierlichkeiten. Nachdem das Füllhorn der Gastfreundschaft bis zur Neige geleert worden, schieden die Muselmänner gerührt am 2. Mai von ihren neuen Freunden.
So haben noch die letzten Funken jenes interessanten Culturherdes des Mittelalters Segen gestiftet, jenen Segen, den die fortschreitende Civilisation überhaupt im Gefolge hat, geläuterte Erkenntniß und dadurch gegenseitige Werthschätzung und Verbrüderung feindlicher Nationen.
Der ehemalige schwäbische Kreis, welcher den südwestlichen Theil des alten deutschen Reiches umfaßte, bot für sich ein getreues Bild der Zerrissenheit in Vielstaaterei dar, unter welcher unser Vaterland bis zu Anfang dieses Jahrhunderts zu leiden hatte. Oesterreichisches, württembergisches, badensches Gebiet stieß und schob sich da aneinander; dazwischen lagen die Ländereien von reichen Hochstiften und Abteien, von fürstlichen und gräflichen Herrschaften und vielen kleinen freien Reichsstädten.
Inmitten dieser bunten Musterkarte von souveränen und halbsouveränen Herrlichkeiten befanden sich auch, theils in der Nähe von Biberach, theils nach dem Sigmaringischen hinein, die Güter von Franz Ludwig Schenk, heiligem römischem Reichsgrafen von Castel, Herrn zu Schelklingen[WS 2], Berg, Altbierlingen, Gutenstein, Engelwies, Ablach und Altheim, Oberdischingen, Bach, Wernau und Einsingen, Hausen und Stetten am kalten Markt, der römischen kaiserlich königlichen Majestät Kämmerer, Seiner kurfürstlichen Gnaden zu Mainz wirklichem Geheimrath und der hochfürstlichen Hochstifter Eichstätt Erbmarschall etc. etc.
So vornehm er sich als solcher Reichsvasall fühlte, so bedauerte er im Grunde seines Herzens doch, daß er nicht mit größerer souveräner Macht ausgestattet sei. Zum Herrschen geboren, entbehrte er die Gelegenheit, einen Staat zu regieren. Er hätte es sicherlich manchem der deutschen Dynasten, die im vorigen Jahrhunderte im Sinne des aufgeklärten Despotismus Schulmeister
Anmerkungen (Wikisource)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_384.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)