Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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Die praktischen Zwecke, welche die Menschheit im Zustande der Kindheit ausschließlich bewegten und zur Entfaltung ihrer Kräfte anspornten, nöthigten vor Allem zu einer bequemen Orientirung in der umgebenden Außenwelt, und damit war, als eine der ersten, die Aufgabe gegeben, die Aufeinanderfolgen in den zahllosen Vorgängen auf eine einzige zurückzuführen, welche das Maß für alle übrigen werden sollte. In all dem bunten Wechsel der Natur und des Lebens war nun die Regelmäßigkeit der Wiederkehr gewisser Ereignisse leicht zu erfassen. So trieb der Baum Blätter und Blüthen, setzte Früchte an und reifte sie, damit einen Höhepunkt in seiner Entwickelung erreichend. Dann weiterhin verwelkten die Blätter, und schmucklos hielt der Baum seinen Winterschlaf, aus dem erwacht, die nämliche Folge von Neuem einsetzte. Doch weit übersichtlicher, regelmäßiger, und dem Menschen sich gleichsam aufdrängend war die ununterbrochene Folge von Tag und Nacht. Frühmorgens entstieg die strahlende Gottheit dem Osten, durchwanderte in gleichmäßigem Laufe den Himmelsbogen und tauchte Abends unter die Berge, der Nacht mit ihren Sternen die Herrschaft überlassend und Menschen und Thiere in willkommenen Schlaf versenkend. Und da nun aller übrige Wechsel in diesen einen gefaßt erschien, ist es da nicht erklärlich, daß ein unmittelbarer Verstand den Inhalt für die Form nahm und aus Tag und Nacht die Zeit erst entstanden dachte?
Muß schon auf dieser Stufe der Entwickelung die Fähigkeit vorausgesetzt werden, einen Vergleich zwischen Ortsveränderungen der Sonne und dem Zeitverlauf anzustellen, so war der nächste Fortschritt, mit dem wir wohl in die historische Periode eintreten, daß man die Zeiteinheit, den Tag, von Mittag zu Mittag zählte, und so die Ungleichheit der Sommer- und Wintertage für jene beseitigte. Als bequemes Mittel, den Höhepunkt der Sonne in ihrem täglichen Laufe, den Mittag, zu bestimmen, bot sich der längere und kürzere Schatten der Gegenstände dar, und von hier war nur noch ein Schritt bis zur Construction der Sonnenuhren, auf deren Ebene der Weg des Schattens in kleinere Einheiten, den Zeitstunden entsprechend, eingetheilt wurde. Aber auch die täglichen Sonnenhöhen veränderten in regelmäßigen Phasen ihren Ort am Himmel, und diesen entsprechend wurde die höhere Zeiteinheit, das Jahr, schon in grauer Vorzeit aus 365 Tagen richtig gebildet. – Mit dem mächtigen Aufschwunge, welchen die Astronomie im Mittelalter nahm, ging Hand in Hand die Vervollkommnung der eigentlichen Uhren, und heutzutage ist die Gleichmäßigkeit und Richtigkeit im Gang der Chronometer auf eine außerordentlich hohe Stufe gesteigert. Mit weit größerer als „minutiöser“ Genauigkeit, dem Laufe der Sonne entsprechend, wandert der Zeiger seine kreisförmige Bahn, und die Regulirung, welche nach längerem Gange eintreten muß, betrifft nur kleine Differenzen.
Copernicus hatte die Erde aus dem Mittelpunkte des Weltsystems verwiesen und ließ sie gleich den andern Planeten eine kreisförmige Bahn um die Sonne beschreiben. Zugleich mußte damit die Bewegung der Himmelskörper als nur scheinbar erkannt und dafür ein täglicher Umschwung der Erde um ihre Achse in der Richtung von Westen nach Osten gefordert werden, dessen erfahrungsgemäßer Nachweis auch nicht lange auf sich warten ließ. Die Dauer dieser Umdrehung ist nun nicht ganz die gleiche, je nachdem man dieselbe durch den Stand der Sonne oder eines Fixsternes bestimmt. Da nämlich die Erde in jedem Tage eine bestimmte Strecke auf ihrer Bahn um die Sonne wandert, wird der Weg, den ein Beobachter zurückzulegen hat, bis wieder die Sonne für ihn am höchsten steht, ein etwas längerer, als wenn er einen Stern beobachtet, für dessen ungeheuer große Entfernung die Erde als im Himmelsraum stillstehend und sich nur um ihre Achse drehend betrachtet werden muß. So ist denn auch der Sonnentag um beinahe vier Minuten länger als der Sternentag. Legen wir unsern Bestimmungen den Letztern zu Grunde, so ist also derjenige Zeitraum, welcher verfließt, bis die Erde durch ihre Achsendrehung einen Beobachter in dieselbe Lage gegen einen bestimmten Fixstern gebracht hat, unsere Zeiteinheit, nach welcher wir unsere Uhren controliren und welche wir all unsern Zeitbestimmungen zu Grunde legen.
Ist nun aber auch die Zeit zu einmaliger Achsendrehung der Erde stets dieselbe? Ist sie nicht vielleicht je nach Umständen langsamer oder schneller? Denn trifft die Voraussetzung einer gleichen Dauer nicht zu, so hätten wir eine Zeiteinheit gewählt, die bald größer, bald kleiner wäre, und darum eine solche gar nicht sein kann.
Wir sehen hier auf der Erde jede Bewegung, sobald sie längere oder kürzere Zeit angedauert hat, zur Ruhe kommen. Die mit großer Geschwindigkeit aus dem Laufe getriebene Büchsenkugel fällt bald zu Boden. Die Schwingungen des längsten Pendels werden allmählich kleiner, bis auch hier alle Bewegung aufhört. Muß nicht bei der Erde ein Gleiches eintreten? Fragen wir die wissenschaftliche Mechanik um Rath, so belehrt uns diese, daß eine einmal eingetretene Bewegung sich unverändert fortsetzt, so lange nicht Reibung oder sonstige Hindernisse überwunden werden müssen, wie Büchsenkugel und Pendel die Reibung an der Luft zu überwinden haben. Eine solche ist nun bei der Drehung der Erde ausgeschlossen, da unsere ganze Atmosphäre mit Theil an derselben nimmt. Und was sollte sonst etwa noch ein Hinderniß abgeben?
Und doch existirt ein solches und steht in thatsächlicher Beziehung zu unserer Zeiteinheit. Freilich, diese braucht darum eine Kritik vom praktisch-menschlichen Standpunkte, ja selbst von dem des Astronomen noch nicht zu fürchten. Ist sie aber auch für den Kosmophysiker eine constante Größe? Denn wer, wie er, mit ungeheuren Zeiträumen zu rechnen hat, mit Zeiträumen, welche zum Mindesten nach Jahrtausenden zählen, kann unsere Frage nicht gelöst betrachten, wenn die Dauer des Sternentages in diesem Jahrzehnte oder Jahrhundert die nämliche geblieben ist, wie im vorhergehenden.
Für ihn nun gewinnt hier die größte Bedeutung der bekannte Vorgang von Ebbe und Fluth. Es steht diese zu all den tausendfältigen Processen in der uns umgebenden Natur in einem merkwürdigen Gegensatze, denn diese lassen sich auch in ihrer verschlungensten Verschlingung immer auf die Kraft des Sonnenlichtes zurückführen. Sämmtliche meteorologische Erscheinungen entstehen durch ungleiche Erwärmung der festen und flüssigen Oberfläche unseres Planeten; die Pflanzen vermögen nur in der Bestrahlung durch die Sonne sich zu entwickeln und zu gedeihen; Pflanzenstoffe dienen wieder den Thieren zur Nahrung, und die Menschen bedürfen wieder beider zu ihrer Existenz. So ist es nicht allein „der Beherrscher des himmlischen Reiches, welcher sich ein Sohn der Sonne nennen darf“; jeder von uns kann dasselbe mit gleichem Rechte thun, mit uns freilich auch die Spinne und der scheußliche Tausendfuß.
Ebbe und Fluth aber verdankt ihre Entstehung einestheils der Massenanziehung des Mondes und der Sonne auf die beweglichen Theile unseres Planeten, auf das Wasser, anderntheils der Achsendrehung der Erde. Wohl unterliegt auch das Luftmeer einer gleichen Einwirkung, hier aber wird das Resultat durch andere Processe vielfach durchkreuzt, sodaß wir uns nur auf die Ebbe und Fluth des Wassers beschränken wollen. Ebenso können wir auch die Anziehung der Sonne im Allgemeinen außer Acht lassen, da diejenige des Mondes wegen dessen weit geringerer Entfernung eine weit überwiegende ist. Der Anziehung, dem Zuge unseres Trabanten folgen nun die Wassermassen des Oceans eine bestimmte Strecke, und am meisten rücken diejenigen gegen ihn hin, welche ihm am nächsten sind, am wenigsten die entferntesten, auf der abgewendeten Seite der Erdkugel befindlichen. So muß sich an diesen beiden Gegenden der Erdoberfläche ein Wasserberg bilden, also Fluth eintreten, indem auf der dem Monde zugewendeten Seite eine Zusammenströmung und Erhebung des Wassers stattfindet, die Wassermassen der abgewendeten Seite aber bei der auf der ganzen Erdoberfläche allgemeinen Strömung nach dem Monde hin zurückbleiben und so ebenfalls einen Wasserberg bilden müssen. Der Wassergehalt der zwischen diesen beiden Fluthbergen gelegenen Gegenden muß dabei verringert werden, hier also Ebbe eintreten. Es existiren demnach stets zu gleicher Zeit zwei Fluthwellen und dazwischen Ebbe, und da für den nämlichen Beobachtungsort über fünfundzwanzig Stunden vergehen, bis der Mond ihm wieder am nächsten steht, muß Ebbe und Fluth in
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_362.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)