Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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fühlen. Trotz oder eben wegen der vorgerückten Stunde der Nacht war das Restaurant stark besucht, aber man sah keine einzige Dame um die kleinen runden Gesellschaftstische, auf welchen Kerzen in Leuchtern von getriebenem Silber brannten. Im zweiten Stockwerke aber bemerkte ich einen ungeheuren schwerfälligen Schrank aus Ebenholz, dessen oberster Theil durch eine Gardine von rothem Reps verdeckt war. Das seltsame Ding war eine Orgel. Mein Begleiter machte dem Aufwärter ein Zeichen; dieser öffnete eine Seitenthür des Schrankes, zog eine ungeheure Walze heraus und begann, wie bei einem Leierkasten, zu drehen; es kam eine Arie aus irgend einer Offenbach’schen Operette zu Stande. Eine solche Orgel darf in keinem großen russischen Etablissement fehlen. Sie kostet an acht- bis zehntausend Rubel, eine Kleinigkeit für Gasthäuser, wo Wein à fünfzehn Rubel die Pulle verabreicht wird.
Auf dem Gange wurde mir dann ein Reservebehälter gezeigt, wo der König der Wolga, der Sterlet, in vielen Exemplaren herumschwimmt, bis durch den Willen eines Gastes der eine oder der andere in die Pfanne gebracht wird. Mein Begleiter bezeichnete als Opfer einen der schönsten herumschwimmenden Fische, und eine Viertelstunde später wurde derselbe auch mit erforderlicher Zubereitung aufgetragen. Gepreßter Caviar, Heringssalat und Meerrettig hatten mit entsprechendem Schnapsaccompagnement für die Sterletsuppe Quartier gemacht. Ich möchte keine gastronomische Lobhymne anstimmen – aber der Sterlet ist ein königlicher Bissen. Dies der Wahrheit zur Huldigung!
Die Müdigkeit der Reise war in solch angenehmer Gesellschaft verschwunden, und zum dritten Male sah ich den Morgen anbrechen. Nach und nach wurden die Lichter ausgelöscht, und durch die Gardinen drang in den Saal die silberähnliche Morgenhelle. Das in deutscher Sprache geführte Gespräch wurde immer lebhafter – und, wie es einmal nicht anders möglich ist, man gerieth auf das Gebiet der Politik. Auf einmal winkte einer von uns mit dem Zeigefinger und deutete mit den Augen auf einen wohlgekleideten am Tische neben uns sitzenden Quidam, der anscheinend damit beschäftigt war eine Papyroscigarette anzuzünden, dabei aber die Ohren nach unserem Tische zu gewaltig spitzte. Sofort verstummte Alles. Die Furcht vor der geheimen Polizei lastet eben wie ein Alp auf dem Gemüth und den Gewohnheiten des Petersburgers.
Die Dazwischenkunft des unberufenen Horchers hatte wenigstens die gute Folge, daß das Nachtgelage aufgehoben wurde und Jedermann den Rückweg antrat, um sein Lager aufzusuchen. Draußen wurde uns eine Ueberraschung zu Theil. Während da drinnen in der warmen Stube gezecht worden, hatte der Himmel seine Schleußen geöffnet, und es schneite tüchtig. Im Nu waren die Dächer und Straßen mit einem dicken weißen Teppich bedeckt. Der eisige Polarwind wehte uns die Flocken unbarmherzig in’s Gesicht. Wohl dem, der sich im Besitze eines Pelzes befand und den Kragen bis über die Ohren hinauf thun konnte! Aber wehe dem nichts Arges ahnenden Westeuropäer, der, auf den wunderschönen Monat Mai vertrauend, sich für St. Petersburg nicht hinlänglich mit Kleidern ausgerüstet hat!
Die winterliche Hülle steht der russischen Hauptstadt übrigens herrlich, und wenn die großartige Newski-Perspektive unter Schnee steht, so gewinnt sie gewiß um hundert Procent an Originalität. Das ist’s ja eben, was der Reisende aufsucht. Drum Dank dem Winter, da er so gefällig gewesen uns diese Gastvorstellung zu geben, die er übrigens öfter wiederholt, wenn selbst die Petersburger an den Frühling glauben. Nur bitte ich schön, daß die Gastrolle sich nicht allzusehr in’s Unendliche ziehe. Es bricht bald die Zeit an, wo der Kriegsberichterstatter draußen Sonne und laue Luft wird brauchen können. Von Moskau her tönt das Echo der Jubelrufe, die den Czaren auf seiner Rückreise von Kischinew begrüßen. Bald wird sich hier Aehnliches wiederholen. Dann kommt die Maiparade, und dann heißt es trotz Schnee und Regen nach dem Süden ziehen, dorthin, wo kaum Muße und Stimmung sein dürfte, über die Sterlet-Suppe Betrachtungen anzustellen.
In dem großen Wohnzimmer blieb Bandmüller einen Augenblick stehen und betrachtete den Brief, den er in der Hand hielt, mit innigster Genugthuung. Dann warf er einen Blick des Behagens auf die elegante Ausstattung, die ihn umgab, und klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn, indem er vergnügt vor sich hin murmelte: „Alter Freund da drin, ich danke Dir, daß Du mich nicht im Stiche gelassen hast. Du hast Dir heute wieder etwas Anwartschaft auf die hübschen Siebensachen hier herum erworben –“
Er schwieg plötzlich und horchte. Nebenan ging die Thür; Frauenkleider rauschten und herein trat – Frau Hornemann.
„Der Herr Commerzienrath ist unwohl und empfängt keinen Besuch,“ sagte Bandmüller, der nicht sofort ihr Gesicht zu sehen bekam. Aber kaum hefteten sich die durchdringenden Augen der energischen alten Frau auf den Sprecher, so drehte sich derselbe auf dem Absatze herum und trat mit anscheinender Rücksichtslosigkeit an das Fenster. Er warf die Lippen auf und kniff die Augen ein – die Mienen seines Gesichtes drückten eine Verlegenheit aus, welche zu dem ganzen Schnitte desselben wenig genug paßte.
„Hol’ der Henker dieses Weib!“ zischte er leise durch die Zähne.
„Ich hoffe, Sie werden mich nicht hindern, wenn ich trotzdem gehe,“ versetzte Frau Hornemann scharf nach einer Pause, während welcher sie die Rückseite des Fabrikleiters gemustert hatte. „Vielleicht haben Sie die Gnade, sich herumzudrehen und mir Ihren Namen zu nennen. Ich bin Ihrem Gesichte schon einige Male begegnet, und es hat jedesmal ein ganz besonderes Interesse für mich gehabt.“
Der spöttische Ton forderte die ganze dreiste Frechheit des Ueberrumpelten heraus.
„Sehr schmeichelhaft,“ erwiderte er im nämlichen Tone; „mein Name ist Bandmüller. Und mit wem habe ich die Ehre?“ Er starrte, das Licht im Rücken, mit großen Augen der alten Frau in’s Gesicht.
„Hornemann heiße ich, Wittwe Hornemann.“
„Sie entschuldigen, wenn ich nicht in der Lage bin, Sie zu ehelichen,“ fuhr der Gereizte giftig heraus, dem es offenbar unter den Sohlen brannte. Er durchmaß rasch den Raum, der ihn von der Thür trennte, riß, dicht neben der Angreiferin stehend, die Thür auf und schmetterte sie hinter sich in’s Schloß.
Da stand sie, das alte, saubere Gesicht mit den blitzenden Augen von den schwarzen Bändern des Stoffhutes umrahmt, der den ganzen Kopf einschloß, im schwarzen Shawltuche über dem gleichfarbigen Wollkleide, ganz Trauer, von der nur in ihren Zügen keine Spur zu finden war. Die eine der filetüberzogenen Hände hielt ein Ledertäschchen.
„Mensch,“ sagte sie hinter dem Davongestürmten drein, „wenn Du wirklich ein Anderer bist, als der, den ich meine, dann ist ein Mann doppelt auf der Welt.“
Und es kam etwas über sie, daß sie die Hände ballen und drohend gegen die Thür ausstrecken mußte, bis sie sich plötzlich besann und die Arme sinken ließ.
„Und nun zu ihm!“
Sie schritt leise über den Teppich; leise öffnete sie die Thüren – –
Der Commerzienrath, der mit schwerem Kopfe auf dem Sopha lag, schnellte empor und stierte sie mit Augen an, welche denen eines Trunkenen glichen.
„Annette,“ brachte er schwerfällig hervor, und man sah, wie er mit seinen Gedanken rang, bis ihm plötzlich die heftige Erregung die Kraft über sich selber zurück gab. „Mein Gott,“ murmelte er erschreckt vor sich hin, „ich glaube, daß ich wirklich krank werde.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_336.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)