Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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No. 19. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
In der nämlichen Nacht lag Urban auf seinem Sopha, bequem ausgestreckt, wie das seine Gewohnheit vor dem Schlafengehen war.
Plötzlich schrak er auf, denn draußen zog Jemand mit ungewöhnlicher Heftigkeit die Schelle. Er erhob sich, um die Hausthür zu öffnen, und als er, die Lampe in der Hand, den späten Besucher, welcher mit undeutlichem „Guten Abend“ eintrat, recognoscirte, erkannte er den Commerzienrath Seyboldt.
„Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er freundlicher, als die anfangs verfinsterte Miene hatte erwarten lassen. Das verstörte, verzweifelte Gesicht des kleinen alten Herrn, der mit sichtlicher Scheu zu ihm aufblickte, flößte ihm Mitleid ein.
„Doctor,“ stieß der Commerzienrath zitternd hervor, „mein Kind, mein Kind! Ich glaube, daß sie stirbt. Ich habe den Sanitätsrath Dolcius und den alten Matthias da gehabt, und die haben sie die Zeit her behandelt und von einem gallig-nervösen Fieber geredet. Heute haben Beide die Achseln gezuckt und gemeint, sie könnten jetzt nichts mehr thun. Mein liebes, schönes Kind, mein Sonnenstrahl wird sterben,“ brach der alte Mann jammernd aus. „Ich habe gebetet,“ fuhr er gefaßter fort, „wie nie in meinem Leben. Ich habe gewiß einigen Anspruch an Gottes Barmherzigkeit, aber der Himmel ist wie zugeschlossen. Doctor, ich gehe nicht aus Ihrem Hause, oder Sie kommen mit mir. Sie können die Verantwortung nicht auf sich laden und einem unglücklichen Vater den letzten Hoffnungshalm in der Hand zerbrechen, Sie müssen mich an das Bett meines Kindes begleiten.“
Und der haltlos Verzweifelte riß mit heftigen Rucken an dem Hausrocke des Arztes, dessen Aufschläge er krampfhaft gefaßt hielt, daß der Schirm der Lampe in Urban's Hand aufspringend klirrte.
Einen Augenblick überkam diesen das alte Gefühl des Grolles, und sein Herz wallte in Bitterkeit auf. „Wenn sie nun einen lichten Augenblick hat und mich erblickt, was dann?“ sagte er mit einiger Ironie im Tone. „Ich fürchte, der Verdruß wird ihr mehr schaden, als meine Kunst ihr nützen kann.“
„Ich nehme Alles auf mich,“ fiel der Commerzienrath hastig ein. „Sie liegt in Fieberphantasien und erkennt Niemanden.“
„Gehen wir!“ sagte Urban kurz.
Sie schritten durch die ruhige, sternenhelle Nacht, in welcher man selbst das nächste Wehr rauschen hörte, und der Arzt fragte Dieses und Jenes über den Verlauf der Krankheit.
Endlich standen sie im Krankenzimmer.
Eine spanische Mattenwand verdeckte das Bett. An einem Tische, auf welchem mitten unter Gläsern und Medicinflaschen wie ein Glühwurm das kleine Nachtlicht strahlte, saß die Frau des Kutschers Johannes; sie hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und war eingeschlafen. Hinter der Matte hörte man hastig hervorgestoßene, nur halb verständliche Worte – das Fieberlallen des armen jungen Geschöpfes, dessen Natur mit dem Verderber rang.
„Da sitzt sie wieder und schläft,“ flüsterte die zitternde Stimme des Commerzienrathes. „Und den ganzen Tag lasse ich dem Weibe zum Schlafen frei, damit sie in der Nacht munter sein soll.“ Und er stieß die Ermüdete an, daß sie erschrocken auffuhr.
Urban winkte abwehrend gegen Beide, nahm das Glas mit dem schwankenden Lichte darin in die eine, und einen grünen, durchscheinenden Papierschirm in die andere Hand und trat leise hinter die Schutzwand.
Wie blasser Mondschein fiel das gedämpfte Licht durch die Blende auf das fieberverwüstete Gesichtchen, das so schmal und farblos auf dem krausen, wirren Haare lag. Die Augenlider waren nicht völlig geschlossen; über die schwarzen Wimpern lief ein nervöses Zucken, und der feine, bleiche Mund zwischen den tiefliegenden Grübchen schwatzte mit geisterhafter Eile einen Wirbel von Worten, während die weißen, kleinen Zähne zwischen den Lippen hervorschimmerten.
Das Antlitz des Arztes verdüsterte sich einen Moment; als er indessen wieder zu den beiden Anderen trat, hatte er seinen gewöhnlichen ruhig-energischen Gesichtsausdruck angenommen. Er setzte Licht und Schirm auf den Tisch und beantwortete den angstvoll fragenden Blick des Commerzienrathes mit Achselzucken. Dann ging er noch einmal zu der Kranken und fühlte nach der schmalen, kühlen Hand auf der Decke. Der Puls schlug schwach, dann und wann aussetzend.
„Ich werde diese Nacht am Bette der Kranken wachen,“ sagte er, leise zu dem unglücklichen Vater tretend.
Der Commerzienrath reichte ihm die Hand. „Fordern Sie dafür, was Sie wollen, aber retten Sie mein Kind!“
„Sie selbst,“ fuhr Urban fort, „werden sich einstweilen zur Ruhe begeben. Wenn irgend ein besonderer Grund vorhanden ist, lasse ich Sie rufen. Die Frau mag hier bleiben und meinetwegen schlafen, soviel sie Lust hat; bedarf ich ihrer Hülfe, so wecke ich sie schon. Gehen Sie! Für diese Nacht bin ich Herr im Hause.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_309.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)