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Seite:Die Gartenlaube (1877) 293.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 18.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Eine schwarze Kugel.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Als Hermann's heiße, überwachte Augen den nächsten Morgen aufdämmern sahen, fühlte er sich nicht weniger betäubt als in der Stunde, wo er sich auf sein Lager geworfen. Ein Grauen vor dem Dasein, vor der Menschheit lag über ihm wie ein Alpdruck, und dazwischen lachte es bitter in ihm auf. Dieser Mann, für alle Welt das Ideal von Ritterlichkeit und Rechtlichkeit, seinem eigenen Geiste ein Vorbild, dieser Mann, dem die erste Jugend – er zählte einundfünfzig Jahre – längst Valet gesagt – er war der Verführer eines jungen, dem Schutze seiner Familie anvertrauten Mädchens. Und dieses Mädchen selbst – Paula selbst! Wäre ein Engel vom Himmel herniedergestiegen, sie der Sünde zu zeihen, Hermann hätte der Anklage keinen Glauben geschenkt. Mit dem letzten Blutstropfen hätte er Paula's Reinheit vertheidigt jeder noch so leisen Verdächtigung gegenüber. Womit sollte er sie jetzt vertheidigen gegen das unselige Zeugniß seiner eigenen Sinne?

Ihm war, als habe nichts mehr Bestand auf Erden, als laufe Alles Gefahr, aus den Fugen zu gehen. Das Leben kam ihm vor wie eine Brücke ohne Geländer, von der sich Schurken taumelnd in den Pfuhl stürzen und die Willenlosen, Schuldlosen mit sich reißen. Sogar in seiner eigenen Seele fühlte er sich nicht mehr heimisch; sie war ja so übervoll gewesen von dem lieben Bilde, dessen entstellte Züge dort nun keinen Raum mehr fanden.

Wie im Taumel erhob er sich von seinem Lager. Alles war so unheimlich um ihn her; selbst das Ticken der Uhr schien ihm nicht mehr das trauliche zu sein, wie ehedem. Und doch war er froh, als ihn das Zusammenläuten der Glocken daran erinnerte, daß es Sonntag war und keine Dienstpflicht ihn nöthigte, seine vier Wände zu verlassen. Bald durfte er ja überhaupt diesem Orte den Rücken wenden, nach Hause zurückkehren und von all den schweren Träumen ausruhen im Lichte der treuesten Augen, der Augen seiner Mutter. Aber nur für die Dauer eines Moments ward ihm leichter bei diesem Gedanken an die theure Pflegerin seiner Kindheit; mit ihrem Bilde zugleich stieg das ihrer so schmählich verrathenen Freundin vor ihm auf. Clara Kettler's liebenswerthes Wesen, die harmonische Häuslichkeit jener Familie warf auf das Unbegreifliche ein so crasses Licht, daß er, um sich aus der qualvollen Wirrniß zu retten, einer milderen Lösung des Räthsels nachzugrübeln begann. Wie ungeheuerlich seiner Jugend solche Leidenschaft des alternden Mannes auch erschien, war es dem Liebenden doch wieder erklärlich, daß Paula's Anmuth Einen, der sie täglich vor Augen sah, überwältigen konnte. Nur begriff sein strenges Jünglingsherz nicht, daß ein Mann so die innere Ehre verkaufen könne – wie groß auch das Gut, der Preis war zu hoch, und bei der Vorstellung alles Dessen, was vorausgegangen sein mußte, bis eine Natur, wie Paula's, sich zur Mitschuld an solcher Unehre und Sünde hinreißen ließ, glühte Haß gegen den Verführer von Neuem in ihm auf.

Lange mochte er so gebrütet haben, als ein Pochen an der Thür ihn aufschreckte. In der nächsten Minute stand er aufrecht und starrte den Eingetretenen sprachlos an. Oberst Kettler grüßte schweigend, that einige rasche Schritte vorwärts und richtete, die Hand auf den Tisch gestützt, einen forschenden, durchbohrenden Blick auf den jungen Mann.

Als ihn Hermann so vor sich sah, mit der gewohnten würdevollen Haltung, dem ritterlichen Ausdrucke der hohen Erscheinung, kam ihm plötzlich alles Erlebte vor wie ein wahnwitziger Traum. Und doch empfand er zugleich mit voller Schärfe, daß der Oberst kam, eine Erklärung zu geben, vielleicht eine solche von ihm zu fordern. Er nahm sich zusammen, um Dem, was zunächst kommen sollte, wovon er sich kaum einen klaren Begriff machen konnte, seinerseits würdig entgegenzutreten. Dennoch trafen ihn die ersten Worte Kettler's wie ein Blitz.

„Sie werden erwartet haben von mir zu hören, Herr Lieutenant,“ sagte Jener kalt. „Wie die Dinge stehen, ziehe ich vor, unsere Angelegenheit persönlich zu ordnen. Sie werden mir Genugthuung dafür geben, daß Sie Zeuge eines Moments geblieben, der keinen Zeugen vertrug.“

Hermann erblaßte bis in die Lippen hinein, doch klang seine Stimme ruhig und gemessen, als er nach kaum merklicher Pause antwortete:

„Sie finden mich zu jeder Genugthuung bereit, Herr Oberst, und ich bitte, es nicht als Widerspruch gegen Ihre Forderung zu betrachten, wenn ich Sie ersuche, zuvor mein Ehrenwort anzunehmen, daß ich ein höchst unfreiwilliger Zeuge gewesen. Die Localität ist Ihnen bekannt – mehr bedarf es nicht, um Sie darüber zu orientiren, daß der zuerst Anwesende seinen Platz nicht verlassen konnte, ohne sich in indiscreter Weise bemerklich zu machen.“

Der Oberst, dessen Augen sich gesenkt hatten, während der junge Mann sprach, erhob sich nach kurzer Pause wieder und sagte düster. „Wort gegen Wort! Empfangen Sie das meine, daß ich gestern mit – jener Dame zum ersten Male ohne Zeugen gesprochen – in dem Sinne – wir verstehen uns.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_293.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)