Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
|
oder das Gefühl der Freundschaft oder der Liebe im Laufe der Zeit, im Leben der Menschheit von Epoche zu Epoche, von Nation zu Nation durchmessen!
Halten wir nur einen Augenblick uns ein Beispiel gegenwärtig von dem, was für uns ein unmittelbar zugehöriger Gegenstand unserer Herzensbefriedigung, unserer Herzensbedürfnisse ist, so können wir den ganzen Weg ermessen, den die Menschheit durchzumachen hatte. Die Liebe der Menschen zu dem aufwärts steigenden Geschlechte, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, überhaupt der jüngern Generation Fürsorge, Hochachtung, Pietät für die ältere Generation erscheint uns als etwas absolut Selbstverständliches; dieses echt menschliche Verhältniß – ich sage echt menschlich, denn diesen Zug allein konnten wir von den Thieren nicht lernen; die Liebe einer Generation zur abwärts steigenden andern zeigt sich fast bei allen Thieren; die Mutter immer, meist auch der Vater, hat eine gewisse Sorge für sein Junges, aber eine Sorge der Jungen für die Alten finden wir bei keinem Thiergeschlechte, das also ist echt menschlich, und nichts desto weniger ist es ein Erzeugniß historischer Entwickelung. Wir kennen heute noch Stämme unter den Menschen, die so cannibalisch sind, daß sie eben ihre Eltern, wenn sie alt und dienstunfähig geworden sind, verspeisen, andere, welche den Alten, sobald sie arbeitsuntauglich geworden sind, auch das Leben nicht mehr gönnen und sie der Wüste und dem Hungertode preisgeben. Erwägen wir, welch ein Weg der Geschichte es gewesen ist, von diesem Verhalten der Jungen gegen die Alten bis zu den Empfindungen, welche sich darin kundgeben, daß „alt“ ein Kosewort ist, daß „alt“ das Herzigste ausdrückt, was man sagen kann, – wenn man von einem neugeborenen Kinde sagt: „Dat oll lütt Worm!“
Wenn man den Gedanken der Geschichte der Gefühle ausspricht, meint man, sage ich, sofort zustimmen zu können und zustimmen zu müssen, ja man sieht den Gedanken als einen selbstverständlichen an, und doch bis auf die allerneueste Zeit herab ist dieser Gedanke keineswegs den Menschen geläufig, noch waren sie geneigt, weil die Geschichte der Gefühle sich dem Auge auch des Forschers leicht entzieht, ihn anzuerkennen. Ich erwähne nur den Einen, Buckle, dessen „Geschichte der Civilisation“ ja so viel Anklang auch bei uns in Deutschland gefunden hat. Er ist noch der Meinung, daß die Menschen in Bezug z. B. auf ihre sittlichen Gefühle zu allen Zeiten gleich gewesen sind; die Veränderungen, welche in der moralischen Welt vor sich gehen, seien nur abhängig von der Veränderung in der theoretischen Erkenntniß. Es habe zu allen Zeiten gegeben und werde geben den Unterschied von Tugend und Laster und die Vertheilung werde ziemlich dieselbe bleiben. Hier ist das Zarteste, das Feinste, das eigentlich Unwägbare in unserm innern Leben mit einem Hauche hinweggewischt, statt daß wir Alles daran setzen sollten, zu einer wirklichen Geschichte der menschlichen Gefühle zu gelangen. Wenn wir einmal eine solche Geschichte des menschlichen Gefühls besitzen werden, dann werden auch alle jene Widersprüche verschwinden, von denen unser tägliches Gespräch voll ist, wenn wir vom menschlichen Herzen reden, und weshalb es den Denkern immer so unergründlich scheint.
Ist es nicht so, daß wir jetzt, wenn uns irgend etwas erzählt wird, etwa aus einer fernen Zeit oder einem fernen Volk, daß wir gleich geneigt sind zu meinen: „es ist doch das Herz überall gleich,“ und in der nächsten Stunde, weil ein Geschwister vom andern sich im Grunde tief unterscheidet, doch wieder zu sagen: „überall ist doch das Menschenherz verschieden und fein abgestuft und schattirt“. Bald sagen wir: „das Herz und seine Regungen sind allgemein menschlich; es ist bei einem Volke wie beim andern“ und dann wiederum: „alles ist doch national verschieden; in jedem Volke zeigt sich – und das ist eben das Wahre der Beobachtung – auch was scheinbar vollkommen das Gleiche ist, dennoch in feinen Unterschieden von einander abweichend“. Ebenso sagen wir bald, wenn wir irgend aus vergangener Zeit ein Ereigniß hören, das an unser Herz klingt und unsere Sympathie erweckt: „das menschliche Herz war doch allezeit gleich“, und doch wissen wir – wir haben es ja eben genauer gesehen – daß das menschliche Herz zu aller Zeit verschieden war. Bald sind wir der Meinung, daß auch das menschliche Herz abhängig ist von der historischen Tradition, daß, je nachdem die Vorfahren gelebt und gewirkt, je nachdem ihr geistiges und inneres Leben sich gestaltet, auch die Gefühlsweise der Menschen sich verändert, und dann wiederum sagen wir und müssen doch auch sagen: „in jedem Menschen fängt sein Herz von Neuem zu leben an; in jedem einzelnen Herzen beginnt von Neuem wieder die Regung seines Gemüths; jeder einzelne Mensch muß von sich aus, von dem leeren Anfang, die Stufe erklimmen, welche vergangene Zeiten erstiegen haben“. Dazu kommt endlich noch der andere Gegensatz; bald sagen wir: „das menschliche Herz ist doch überall Natur; wenn alle Künste sonst den menschlichen Geist berücken, wenn die Lebensverhältnisse künstlich gestaltet werden können, im Herzen erlischt die Stimme der Natur nicht“, und auf der andern Seite sehen wir, daß auch das Herz so völlig abhängig ist von der Cultur und ihren Stufen, daß auf verschiedenen Culturstufen, in verschiedenen Culturepochen, in verschiedenen Culturrichtungen auch das Gefühl verschieden ist.
Wenn das Verschwinden dieser täuschenden Gegensätze der theoretische Gewinn einer Geschichte des menschlichen Gefühls sein wird, dann wird auch noch ein praktischer Erfolg daraus kommen für uns Alle. Eins werden wir zu erkennen haben: wohl ist das menschliche Gefühl Gegenstand historischer Entwickelung; seine höchsten und reinsten Formen treten nicht in die Erscheinung, ohne daß oft durch viele Generationen eine Verfeinerung, eine Veredelung des menschlichen Herzens stattgefunden hat, ohne daß die Gefühle allmählich durch die Mitwirkung der Weisheit, der Dichtkunst, des edelsten Wollens, zu der vollendeten Form gekommen sind, welche sie eben empfangen haben – obwohl aber so das Gefühl abhängig ist von der Geschichte seiner Entwickelung, so ist dennoch hier nicht, wie bei den anderen Richtungen des inneren Lebens, mit der Geschichte sein Fortgang bereits gesichert. Gedanken, welche einmal erobert sind, gehen nicht leicht wieder in der Geschichte verloren; historische Institutionen, welche geschaffen sind, überleben alle die Gesinnungen, aus welchen sie hervorgegangen sind, im Gefühle aber geht jederzeit, im Ganzen der Menschheit, in jedem Volke, in jedem Einzelnen der Weg aufwärts und abwärts. Täglich, stündlich sind wir vor diesen aufwärts und abwärts führenden Scheideweg gestellt; täglich und stündlich sind wir davor gestellt, daß wir in unserm Gefühl eng, klein, egoistisch oder groß, frei und hingebend sein können. Die Erbschaft der Geschichte in Bezug auf die Veredelung des Gefühls geht jeden Tag wieder verloren, es sei denn, daß wir selbst sie uns von Neuem gewinnen. Geschichtlich ist das menschliche Gefühl, aber dieser geschichtliche Erfolg muß jeden Tag und jede Stunde von den Einzelnen und von der Gesammtheit von Neuem wieder errungen werden.
Bei Gelegenheit des Besuches, den Kaiser Wilhelm im vorigen Jahre bei den Wagner-Vorstellungen dem Könige von Baiern in Bayreuth abstattete, bewohnte der Kaiser das bei genannter Stadt gelegene Lustschloß Eremitage. Die Zeitungen brachten bei Gelegenheit einige Notizen über Eremitage. Wir hoffen das Interesse unsrer Leser durch eine ausführliche Skizze über den interessanten Ort zu fesseln.
In den oberfränkischen Kreis des Königreichs Baiern theilten sich einst zwei Herren, ein weltlicher und ein geistlicher, der Markgraf von Brandenburg-Bayreuth und der Bischof von Bamberg. Das Markgrafthum Brandenburg-Bayreuth zählte etwa zweihunderttausend Einwohner. Friedrich Wilhelm der Erste von Preußen hatte den an Sparsamkeit gewöhnten Markgrafen Georg Friedrich Karl im Sommer des Jahres 1730 in dem damals noch winzig kleinen, unscheinbaren Bayreuth besucht. Der Etiquette gemäß hatte der Markgraf seinen königlichen Gast in einem eine halbe Meile von Bayreuth entfernten Dorfe in seinem Staatswagen aufgenommen, an dem die historischen Erinnerungen vielleicht noch das einzige Bemerkenswerthe waren. Die Dienerschaft hatte Mühe, das vierrädrige schwankende Möbel aufrecht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_248.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)