Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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No. 15. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Mich friert, arme Toni,“ hörte er Emilie sagen; „die nassen Kleider liegen mir wie Eis auf der Haut. Mache Dich stark und laß uns langsam in das Haus gehen! Harro wird im Augenblicke kommen, und er darf uns nicht so schwach sehen.“
Der Friese trat derben Schrittes vor. Toni schreckte zusammen und wandte ihm ihr verstörtes und verweintes Gesicht zu.
„Ach, Herr Harro, nicht wahr, er ist todt, und wir werden ihn nicht wieder sehen?“ fragte sie mit bebender Stimme.
Er zuckte die Achseln. „Der Mann hat eine gefährliche Reise gemacht, Fräulein, wie ich sie nicht antreten würde, ohne zuvor mein Testament vor Notar und Zeugen richtig gestellt zu haben. Es stünde mir schlecht an, Hoffnungen zu erwecken, die ich selbst nicht theile; man muß auf das Schlimmste gefaßt sein. Wer indessen Glück hat, der ist gefeit gegen Alles. Nun dürfen Sie aber in dieser Kleidung keinen Augenblick mehr hier stehen, Fräulein Emilie.“
Er bemerkte, wie sie am ganzen Körper schauderte.
„Wollen Sie mir noch einen Gefallen erzeigen?“ fragte sie mit gezwungener Fassung, während er fühlte, wie ihre Blicke mit forschendem Ernst auf ihm ruhten.
„Ich stehe zu Ihrer Verfügung.“
„So eilen Sie auf dem kürzesten Wege um den Berg und bringen Sie uns Nachricht über das Schicksal des Verunglückten. Sie müssen ihn finden, lebend oder als Leiche.“
„Darf ich mir die Frage erlauben: Wer war dieser Mann?“
„Jetzt nicht,“ drängte sie mit zitternden Lippen; „Sie sollen noch Alles hören.“
„Nun denn, so will ich gehorchen, obwohl ich die moralische Ueberzeugung habe, daß der Mann, wer er auch sei, ein gewissenloser Schurke gewesen ist, der weder Ihrer Klagen noch meiner Mühe werth ist. Wollen Sie mich in einer Stunde noch sehen, auch wenn ich ihn nicht finde?“
„Ja,“ sagte Emilie, „aber lassen Sie uns den Glauben bis dahin, daß Sie ihn finden werden!“
Sie reichte dem Friesen die kalte, feuchte Hand, und er führte sie an seine Lippen.
„Auf Wiedersehen!“
Dann blickte sie ihm mit weitgeöffneten, thränenlosen Augen nach, bis seine hohe, mächtige Gestalt im Schatten verschwand, und nun erst brach ihre künstliche Haltung auf einen Moment zusammen.
„Es ist zu spät, Toni,“ murmelte sie mit erstickter Stimme; „er wird ihn nicht finden. Zerschellt oder ertrunken – die Wasser haben ihn fortgeschwemmt. Du hast ihn nicht allein geliebt, Mädchen. Du kannst ihn nicht so heiß geliebt haben wie ich, denn Du hast nicht das süße Gift seiner Liebesworte getrunken wie ich und Du weißt nichts von seinen Küssen. Todt – Alles aus! Nun brauche ich nicht mehr zu beten: Führe mich nicht in Versuchung! Er konnte der Deinige noch werden, Toni, aber vielleicht ist es gut, daß er es nicht geworden ist, für mich und für Dich. Weißt Du, wer ihn gemordet hat? Ich, ich selber! Ein heuchlerisches Versprechen von meiner Seite, etwas weniger Stolz, etwas mehr Duldsamkeit gegen Zwang, und es war Alles gut. O mein Gott, warum habe ich ihn nicht[WS 1] betrogen oder – nein, mit ihm sterben durfte ich nicht, denn ich will ja mit einem Zehren an den Altar treten. Ich will kämpfen, bis ich auch das Entsetzen dieser Nacht überwunden habe; es muß ja sein – der kalte, herzlose Gott auf dem Eisthrone will es so. Nur darf mich in der nächsten Stunde kein Mann sehen, vor Allem nicht der starke, unbeugsame, der mich hier gefunden hat. Er soll eine Stunde lang fern von uns suchen, und er soll den Glauben behalten, daß ich werth wäre, ein Mann zu sein. Das ist es, warum ich ihn fortgeschickt habe. Komm, Toni!“ – –
Harro war fast bis an den Fuß den Felsens gelangt, von wo er das jenseitige Thal überblicken konnte, aber hier überzeugte er sich, daß sein Gang ohne jedes weitere Hülfsmittel vergeblich sein würde. Das Thal lag dunkel; der Himmel war zur Hälfte schon mit finsterm Gewölk bezogen. In wenigen Minuten flogen die Vorboten desselben bis an den Mond heran. Dann brach mit Nothwendigkeit die volle Dunkelheit herein; wie sollte er da etwas finden ohne Laterne?
Er kehrte um und eilte in’s Wirthshaus zurück. Nur der Wirth war noch munter.
„Kommen Sie mit!“ sprach Harro; „es ist ein Unglück geschehen. Ein Mann ist mit dem Kahne den Fall hinuntergestürzt.“
Sie machten sich auf den Weg, jeder eine Stalllaterne, der Wirth überdies eine Leiter, Harro zwei Stangen tragend. So schritten sie in der Finsterniß um den Berg. Kalte, regendunstige Luft strömte vom Thale her; zur Linken klang das Geräusch des Flusses. Sie suchten lange am Ufer hin und kletterten bis dicht an den Fall. Naß von dem Sprühnebel, meinte endlich der Wirth: „Ich hätte es Ihnen gleich sagen können, daß da von einem Menschen nichts übrig geblieben sein wird, der vor einer halben Stunde herunter gefahren ist. Es wird gleich anfangen zu regnen; ich dächte, daß wir das Suchen aufgäben.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: uicht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_241.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)