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Seite:Die Gartenlaube (1877) 225.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Der Dichter der „Sturmfluth“.


Keine Form, deren sich die schöpferische Phantasie des Dichters bedient, ist so geeignet, ein Culturgemälde des Jahrhunderts zu geben, wie der Roman. Er ist nicht nur die volksthümlichste Gattung der Poesie, sondern kann auch in seinen weitgesteckten Grenzen eine fast unendliche Lebens- und Gedankenfülle zum Ausdruck bringen. Mit Recht betrachten daher alle Talente, die sich nicht mimosenhaft vor der Berührung mit der Gegenwart zurückziehen, sondern frisch aus ihrem Geiste heraus dichten, den Roman als eine jeden bedeutsamen Inhalt willig tragende Form.

Unter den Vertretern des Zeitromans hat Friedrich Spielhagen in wenigen Jahren die seltensten Erfolge erzielt und sich durch die geistreiche Behandlung und graziöse Form seiner Schöpfungen zu einem Lieblinge seines Volkes gemacht. Von all unseren Erzählern erscheint dieser Autor recht eigentlich als der Dichter unserer Zeit, mit deren Verhältnissen und Erscheinungen, mit deren politischem und socialem Ringen er auf das Innigste vertraut ist. Für Spielhagen ist der Einfluß, den die umgebende Welt auf ihn ausübt, kein lästiger Zwang, sondern ein freudiges Behagen. Von der Würde und dem hohen Berufe der Gegenwart auf das Tiefste durchdrungen, hat dieser Schriftsteller seiner Nation einen Spiegel vorgehalten und alle Wandlungen des Volksgeistes, vom unklaren Ringen bis zum herrlich erreichten Ziele, in bleibenden Kunstwerken geschildert. Geleitet von einem sehr deutlich wahrnehmbaren Principe, hat Spielhagen in seinen Romanen die Geschichte eines vollen Menschenalters, von dem tollen Jahre 1848 bis zu dem folgenschweren Ereignisse der modernen „Gründungen“, geschrieben.

Die Reactionsperiode, die bedrohlichen Regungen des Socialismus in Deutschland, die Begründung des Einheitsstaates, die Periode des sinnlosen Schwindels, all diese Phasen in der neuesten Geschichte unseres Vaterlandes hat Spielhagen in seinen Romanen zu großen Zeitgemälden künstlerisch ausgestaltet. Schon bei dem ersten Auftreten des Dichters mußte es als sein eigentlicher Beruf erkannt werden, der Nachwelt das Bild der Mitwelt in dauernden Zügen zu entwerfen. Aber wie haben seine Schöpfungen im Laufe der Zeit an dichterischer Fülle und Gedankenreichtum, an edler Harmonie und künstlerischem Gusse gewonnen! Von Spielhagen’s erstem, mit Recht Aufsehen erregendem Doppelromane „Problematische Naturen“ und „Durch Nacht zum Licht“ bis zu seinem jüngsten Erzeugnisse „Sturmfluth“, der großartigsten Composition, die ihm bis jetzt gelungen, ist sein Talent fast ununterbrochen in ansteigender Entwickelung begriffen gewesen. Aber auch diejenigen Romane, in denen uns hier ein Seitenflügel, dort ein Anbau stören mag, strömen den eigenthümlichen geistigen Dunst aus, der diesen Schriftsteller so hoch über die alltägliche Unterhaltungsliteratur stellt.

Friedrich Spielhagen wurde am 24. Februar 1829 zu Magdeburg geboren. Sein Vater, Regierungs- und Baurath, wurde schon in den nächsten Jahren nach Stralsund versetzt, und


Friedrich Spielhagen.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

hier verlebte Spielhagen seine Knabenzeit, genoß er seine Gymnasialbildung. In dem liebenswürdigen Werke „Aus meinem Skizzenbuche“ hat der Dichter unter dem Titel „In meiner Jugend-Stadt“ dieses Idyll der Kindheit anziehend geschildert. Das dürftige Leben der kleinen Provinzialstadt, die tiefen Eindrücke, welche die landschaftliche Scenerie des Meeres auf das Gemüth des Knaben ausübte, die zu jeder Tages- und Jahreszeit unternommenen Streifereien durch Wiesen und Felder werden so anschaulich erzählt, daß man wohl begreift, wie der Dichter in seinen Romamen Naturschilderungen von so unvergleichlicher Wärme und Treue entwerfen und die Poesie der preußischen Strandgegenden mit so bezaubernder Frische erschließen konnte. Während der Universitätsstudien, denen Spielhagen in Berlin, Bonn und Greifswald oblag, gehörte er einer Burschenschaft an, ohne sich jedoch an dem aufgeregten politischen Treiben der Revolutionsjahre zu betheiligen. Noch völlig unklar über die in ihm schlummernden Keime, wechselte er in seinen Studien, die sich auf Medicin, dann auf Jurisprudenz, zuletzt auf allerlei Humaniora erstreckten, ebenso häufig, wie später in seinem Beruf, da er nach einander Hauslehrer, Schauspieler, Landwehr-Officier und endlich Lehrer am modernen Gesammtgymnasium in Leipzig war. Hier veröffentlichte er seine ersten Novellen „Clara Veré“ und „Auf der Düne“ 1857 bis 1858. Der Erfolg dieser Versuche befriedigte ihn jedoch so wenig, daß er im Begriff stand die literarische Laufbahn aufzugeben, als endlich 1859 die „Problematischen Naturen“ einen glänzenden Erfolg hatten und ihrem Verfasser eine beneidenswerthe Zukunft eröffneten. Sie erschienen zuerst im Feuilleton der „Zeitung für Norddeutschland“, zu deren Redaction er von Leipzig nach Hannover übersiedelte. Im Jahre 1861 zog Spielhagen nach Berlin, um sich auf der Höhe des rasch erworbenen schriftstellerischen Ruhmes nicht nur zu behaupten, sondern denselben auch durch unablässige Thätigkeit fortdauernd zu steigern.

Spielhagen ist stolz darauf, ein Kind unseres Zeitalters zu sein. Wo die Interessen der Neuzeit in’s Spiel kommen, ist es ihm ein innerstes Bedürfniß seinem Volke ein Abbild vorzuhalten, in dem dasselbe seine eigenen Züge, seine Vorzüge und Fehler erkennen kann. Spielhagen ist unerbittlich, wenn es sich darum handelt, diesen Spiegel der Zeit rein und ungetrübt zu erhalten. Als die höchste Aufgabe des Poeten betrachtet er es, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen und die Welt zu schildern, wie sie wirklich ist. Keine Schönseligkeit kann ihn veranlassen, die süße Lüge der bittern Wahrheit vorzuziehen, das Laster künstlich zu übermalen, die Heuchelei idealistisch zu verschleiern. Diese natürliche Frische und Lebenswahrheit besitzen Spielhagen’s Figuren aber deshalb, weil sie, um einen Malerausdruck zu gebrauchen, nach Modellen gearbeitet sind. Fast durchweg lassen sich seine Gestalten auf bestimmte Zeitgenossen zurückführen, die demselben als Urbilder gedient hoben. Der Dichter hat seine Charakterköpfe nicht nach allgemeinen Ideen entworfen, sondern aus der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_225.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)