Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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No. 14. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Toni hielt es nicht lange mehr im Zimmer aus; sie wollte die Gegend sehen und die Abendluft des Thales athmen. Die Mädchen nahmen die Hüte und gingen in den Obstgarten hinaus und zum Flusse hinunter. Am Wasser standen altersgraue Weiden, hohl und wie ausgebrannt, nahe bei einander. Die Fluth murmelte leise in den Unterspülungen des Ufers, und in träumerischer Ruhe lag ein nicht eben großer Kahn vor den Augen des Commerzienrathkindes, mit der Kette an einen Pfahl geschlungen. Das Ruder befand sich auf dem Grunde desselben.
Toni klatschte in die Hände. „Ein Kahn! Wir müssen einmal fahren, Milli. Kannst Du nicht das Ruder führen?“
„Ich kann es wohl, liebes Herz, aber die Strömung ist wegen des nahen Wasserfalles stärker, als die ruhige Fläche glauben läßt. Vielleicht leiht uns mein neuer Freund Harro später seinen starken Arm dazu. Es ist geisterhaft schön hier unten gewesen in den letzten Nächten, wo der Mond auf das Wasser schien und die Nachtigall im Busche drüben sang.“
„Hast Du denn Mondscheinspazierfahrten mit Deinem neuen Freunde gemacht?“ fragte Toni.
„Nein, kleine Unschuld,“ lächelte die Begleiterin. „Ich habe sie mutterseelenallein gemacht. – Für mein armes Bischen Leben übernehme ich die Verantwortung schon, aber für Dich nicht, wenigstens nicht allein.“
„Ich bin doch neugierig auf diesen Harro oder wie er heißt. Gefällt er Dir denn? Und ist er wirklich so stark? Was treibt er eigentlich, und wie kommt er hierher? Gehört er zu den Schwarzen oder Braunen oder Blonden?“
„Sieh' ihn Dir an, mein Engel! Wenn Du klettern kannst, so steigen wir auf die Felsen und sehen, ob er kommt.“
Sie stiegen wirklich die Felsen hinauf, einen schmalen, beschwerlichen Schlangenweg, im Dufte der Bergflechten und des wilden Thymians. Als sie auf dem Gipfel zwischen Klippen und Blöcken standen, lag der Berg im röthlichen Glanze der sinkenden Sonne zu ihren Füßen, und weiterhin streckte sich der Thalwinkel, mit weidenden Kühen, lief unten, und ein paar heimkehrenden Arbeitern und Weibern.
„Da,“ sagte Toni plötzlich überrascht und deutete zum Flusse hinüber. „Das ist ein Zigeuner.“
Auf dem jenseitigen Ufer, den Wald im Rücken, stand in der That ein Mensch, wie es schien mit einem Angelstocke in der Hand, und seine Tracht verrieth den Zigeuner. Er blieb regungslos wie eine Bildsäule.
„Sie treiben viel Fischfang, und wie Harro sagt, mit merkwürdigem Geschicke. Der da unten ist der Bruder Deines Zigeunermädchens. Uebrigens sehe ich Harro nirgends; er bleibt länger als sonst aus.“
Sie senkte die Augen, als sie das Zigeunermädchen nannte, und zuletzt schritt sie abgewandt zwischen dem Gesteine hin in der Richtung, in welcher der Fluß lag; nur einen Moment blickte sie über die Schulter zurück und winkte der Freundin, ihr zu folgen. Kurz darauf standen sie bei einer zerrissenen Klippenwand und blickten mit leisem Schauer in den brausenden, schäumenden Kessel nieder. Ein Lufthauch, der zu ihnen herauf drang, wehte sie feucht an.
„Das ist schön,“ flüsterte Toni.
„Schön und schauerlich,“ meinte ihre Gefährtin. „Die Leute erzählen sich, daß ein unvorsichtiger Knecht eines Tages mit dem Kahne von der Fluth überwältigt und mit hinabgestürzt worden sei. Die wüthenden Wasser haben ihn gegen einen der Zacken da geschleudert, und bei der Brücke hat man die Leiche und die Kahntrümmer aufgefischt.“
Toni schloß die Augen. „Mich schwindelt,“ sprach sie, den Kopf abwendend und mit der kleinen Hand fest einen Vorsprung umklammernd, „laß uns gehen! Vielleicht können wir auf der andern Seite dort hinunterklettern. Führt da kein Weg?“
„Ah, dort kommt Harro, und er schwenkt den Hut zum Zeichen, daß er uns gesehen hat. Bleiben wir hier!“
„Also das ist er?“ sagte Toni vor sich hin. „Und er ist wirklich nur Deinetwegen hier, Milli? Liebt er Dich denn etwa auch? Oder weiß er am Ende gar nicht, daß Du bald heirathen wirst?“
Emilie antwortete nicht. Sie setzte sich auf einen Steinblock und blickte feuchten Auges in die Abendluft, während Toni sich zu ihren Füßen kauerte und ihr unverwandt in das schöne, verklärte Gesicht sah.
„Toms liebte Mieken, mein Schatz. ‚Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu, und wem sie just passiret, dem bricht das Herz entzwei.‘ Das ist richtig, ausgenommen den Schluß, denn ein Herz kann viel mehr vertragen, als die meisten Menschen glauben. Ich habe viel gelernt, seit ich in dieser Einsamkeit wohne, und es war eine schwere Lection, die mir gar nicht in den Kopf wollte. Das Herz ist ein Weib, ein armes, schwankendes, launenhaftes, leicht verführtes Weib, das gern den Herrn im Hause spielen möchte und nicht das Zeug dazu hat.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_221.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)