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Seite:Die Gartenlaube (1877) 197.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Zerfalle und der tiefen Erniedrigung nach dem Tage von Jena bis zur Annahme der Kaiserwürde im Spiegelsaale des Versailler Schlosses, von da bis zur Gründung des Reiches und zur Aufnahme des Kampfes mit den Anmaßungen Roms, wahrlich, das ist ein Weg, dessen inhaltsvolle Größe ein flüchtiger Blick nicht zu umfassen vermag und den dieser im Grunde des Herzens friedliebende Mann gegangen ist mit der wachsenden Mäßigung und Weisheit, welche eine reiche Erfahrung giebt, mit einem zugleich milden und unerschrockenen Herzen und mit der Einsicht und tiefen Bescheidenheit, welche die rechten Berather zu finden und neidlos festzuhalten weiß. Sein persönliches, wie sein öffentliches Leben war bis jetzt nur eine Bethätigung der Grundsätze, die er einst als junger Prinz in seinem Confirmationsgelöbnisse ausgesprochen hat. Vollkommen ist freilich kein Menschenwerk und nicht Alles kann auf einmal errungen werden. Fühlen aber alle Deutschen richtig und fehlt ihnen nicht der geschichtliche Sinn, ohne den ein Volk in der Noth und im Gewirre der Tagesströmungen sich verlieren muß, so werden sie den achtzigsten Geburtstag des Kaisers mit Gefühlen der Andacht und des freudigen Dankes feiern, daß das Geschick in wirrnißvoll nach Entscheidungen drängenden Tagen uns diesen Monarchen erstehen ließ, der nicht blos durch den Glanz seiner Thaten und seiner Machtstellung aus der Geschichte seiner Zeit hervorragt, sondern durch Züge wahren Menschenwerths, durch herzgewinnende Eigenschaften und durch Hoheit des Sinnes und der Erscheinung für alle Zukunft eine stolze Zierde des deutschen Namens bleiben wird.

A. Fr.




Aus den letzten Lebenstagen Beethoven's.
Von La Mara.[1][WS 1]

Noch nicht sieben volle Jahre sind verflossen, seit man in unserm Vaterlande aller Orten den hundertjährigen Geburtstag Ludwig van Beethoven’s, des größten Tonmeisters, den nicht allein unser Volk, sondern die Welt überhaupt je besessen, feierte, während die Donner des Kriegs herüberhallten von jenseits des Stromes, daran seine Wiege stand. Zu stillerer, von außen her ungestörterer Sammlung ladet uns jetzt die fünfzigjährige Wiederkehr seines Sterbetages ein. Ein halbes Jahrhundert hat sich am 26. März 1877 vollendet, seit er, der große Kämpfer und Freiheitsverkündiger, seine müden Augen geschlossen. Das große Trauerspiel seines Lebens war zu Ende, und tragisch genug war dasselbe verlaufen: Ob auch ein Herrscher und König im Reiche der Kunst, Millionen zur Freude geboren, war er als Mensch einsam und freudenarm über die Erde gegangen, hatte er unter Kampf und Schmerzen, wie selten Einer, seine irdische Laufbahn vollbracht. Oder schauen wir uns im Kreise unsrer großen Meister nicht vergebens nach Einem um, dem die Vorsehung das Maß der Leiden reichlicher zugemessen, nach Einem, der es gründlicher denn er erschöpft hätte? Den auch dem Aermsten vergönnten Segen unverkümmerten Jugendglückes hat er nie gekannt. Schon in den Tagen der Kindheit war Schwermuth seine traurige Mitgabe, die Sorge seine finstere Gefährtin. Und sie blieb ihm treu bis zum Grabe, nur an wenigen sonnenhelleren Tagen von seiner Seite aufgescheucht. Keine ihm innerst verwandte Seele aber hat sich der seinen angeschmiegt, und versagt blieb ihm das Glück der Liebe und Ehe und ebenbürtigen Freundschaft, versagt selbst der arme Trost äußerer Güter, wie sie das Leben schmücken. Auch das, was Andern zur Befreiung und Erlösung, zum lautern Segensquell wird: das Glück des Schaffens, ward ihm vergällt durch die bitterste der ihm auferlegten Entbehrungen – seine sich immer hoffnungsloser gestaltende Gehörlosigkeit. Daß er das Göttlichste, was er uns geoffenbart, niemals mit seinem eigenen Ohr vernommen, daß er, der überschwänglich Tönereiche, sich innerhalb einer für ihn verstummenden Welt begnügen mußte mit dem lautlosen Tonspiel seiner Phantasie: das ist’s, was seine Gestalt, die heroischste, zugleich zur tragischsten macht, welche die Geschichte der Tonkunst kennt.

Doch nur den Schlußact der Lebenstragödie Beethoven’s gilt es uns gegenwärtig zu betrachten. Er fällt, halten wir an der hergebrachten Dreitheilung seines Lebens und Schaffens fest, mit der dritten Periode, den letzten zwölf Lebensjahren des Meisters, von 1815 bis 1827 zusammen. Noch das vorausgehende Jahr 1814, „das glanzvollste“ in der Lebensgeschichte Beethoven’s, wie Schindler, sein Zeitgenosse und Biograph, es bezeichnet, hatte die Sonne seines Glückes, ob sie ihm im Ganzen auch spärlich genug lächelte, im Zenith gesehen.[2] Als gelegentlich eines Concertes während des Wiener Congresses das glänzendste Publicum Europas, sämmtliche in Wien anwesende Monarchen an der Spitze, den Darbietungen des Tondichters lauschte und seinem Genius begeistert huldigte, da schien es, als sei die Zeit gekommen, wo die Mitwelt die Größe dieses allgewaltigsten Musikgeistes allgemach zu begreifen begann; lichtere Tage denn bisher schien ihm die Zukunft freundlich zu verheißen. Aber nur dunkler gestaltete sich sein Leben fortan, nachdem es seinen heitersten Sonnenblick erfahren. Im November 1815 starb Beethoven’s Bruder Karl, der ältere jener beiden ihm durchaus unebenbürtigen Brüder, an denen er schon in früher Jugend Vaterstelle vertreten, da sein in Trunksucht verkommener Vater seine Pflichten gänzlich verabsäumte, und deren Erziehung und Unterhalt ihm lange ausschließlich oblag, wie er auch später alle Zeit ihr bereitwilliger Unterstützer blieb, ob sie – und zumal der jüngere derselben, Johann – ihm auch seine Wohlthaten mit schnödem Undank lohnten.

Das Testament des Verstorbenen übertrug die Fürsorge und Vormundschaft über seinen hinterlassenen achtjährigen Sohn seinem großen Bruder Ludwig, und dieser trat in der That eine Erbschaft an, die eine Quelle der bittersten Erfahrungen für ihn werden sollte. Nicht allein, daß dieses neue Amt ihm, dem von den praktischen Dingen des Lebens Abgekehrten, ganz nur seiner Kunst Dahingegebenen, vielfältige Opfer auferlegte, es verwickelte ihn auch – da er den ihm anvertrauten Knaben dem schädlichen Einfluß seiner verderbten Mutter zu entziehen genöthigt war – in unerquickliche Streitigkeiten und einen langwierigen Proceß, der erst nach vier Jahren zu seinen Gunsten entschieden ward. Aber auch der seiner Liebe und Großmuth sich wenig werth erweisende Neffe selber that das Seine, um Kummer und Aergerniß aller Art auf das Haupt seines Wohlthäters zu häufen und die letzten kostbaren Jahre seines Lebens zu umdüstern und abzukürzen. Dazu bedrängten körperliche Leiden, häusliche Widerwärtigkeiten, ja materielle Sorgen den Künstler von allen Seiten und entpreßten seinem gequälten Gemüth manche verzweifelte Klage. „Gott, helfe! Du siehst mich von der ganzen Menschheit verlassen,“ heißt es im Tagebuche von 1816, und in einem Briefe an Ries vom Mai 1819 schreibt er: „Ich war derweilen mit solchen Sorgen behaftet, wie noch mein Leben nicht, und zwar durch übertriebene Wohlthaten gegen andere Menschen.“

Im August 1820 geschieht es sogar, daß er „vier böse Tage“ hindurch „mit einem Glas Bier und einigen Semmeln“ als Mittagsmahl fürlieb nehmen muß, da ihm die Mittel fehlen, etwas anderes zu genießen. Zwar ist er im Besitz eines kleinen Capitals, das er sich dank der Concerterträgnisse des Jahres 1814 zurückgelegt, allein er betrachtete dasselbe als Erbtheil seines Neffen und als solches unangreifbar. Und auch das Componiren ging ihm gerade zu dieser Zeit langsamer denn sonst von der Hand; obgleich er bereits seine zwei gewaltigsten Schöpfungen: die Missa solemnis und die neunte Symphonie, im Geiste mit sich herumtrug und gestaltete. Von vollendeten Arbeiten aber umschließt der Zeitraum von 1815–1822 als Werthvollstes nur die letzten Sonaten op. 101–111, die Ouvertüren op. 115 und 124, den elegischen Gesang, Meeresstille und glückliche Fahrt, den Liederkreis: „An die entfernte Geliebte“ und die Quartettfuge op. 133.

  1. Wir wollen nicht unterlassen unsern Lesern mitzutheilen, daß den früher (1874) von uns besprochenen ersten zwei Bänden der „Musikalischen Studienköpfe“ von La Mara, die jetzt in dritter Auflage vorliegen, ein dritter Band „Aus der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart“ gefolgt ist.
    D. Red.
  2. Eingehenderes siehe: La Mara, Ludwig van Beethoven. Biographische Skizze. Leipzig, Schmidt und Günther.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Musikalischen Charakterköpfe“; vergl. Berichtigung, Heft 15, S. 256
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_197.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)