Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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wirft in seiner bekannten absprechenden Rücksichtslosigkeit ein Urtheil über die angebliche Feigheit des Prinzen Napoleon in die Welt hinaus, das aus Anstandsgefühl hier besser unterdrückt werden dürfte.
Einsam, von Allen gemieden, sitzt der Prinz in der äußersten Ecke von Versailles und träumt von einer Krone.
Ist es nur ein Traum?
Beim lieben Gott und in Frankreich ist freilich Alles möglich.
Harro fluchte wie ein Türke. Der Italiener aber trat auf Karl Hornemann zu, erfaßte mit Wärme seine Hände und sprach im Tone tiefer Erregung: „Mein Herr Hornemann, ich habe den Wunsch, Sie Bruder nennen zu können. Leihen Sie Ihren Arm der Schöpfung einer deutschen Republik und eines freien und einigen Italiens! Lassen Sie uns in diesem Sinne sagen: auf Wiedersehen!“
Die braunen, treuen Augen des Pascha suchten das Fenster, zu dem die laue Nachtluft hereinströmte. „Vielleicht,“ sagte er zögernd.
„Nun,“ sprach blitzenden Auges der Italiener, und ließ die erfaßten Hände los. „Wir werden dafür sorgen, daß Ihr König verschmäht, um eine Constitution zu pactiren; wir werden das Unsrige thun, damit Ihr 'Vielleicht' zu einen 'Gewiß' wird.“
Harro's Abschied war so stürmisch wie seine Bewillkommnung. „Junge, wir gehen nach Baden hinunter, schloß er; „wenn Du nicht mit uns, sondern wider uns sein wirst, so lasse ich eine Auflage Bibeln drucken und statt Pilatus Hornemann setzen.“
„Leb' wohl, Du alter, lieber Tyrannenfresser!“ sagte der Pascha und drückte dann dem Italiener die Hand. „Und nun, Vater Schoner, fängt Ihre Aufgabe an; durch die Schlucht hinunter bringe ich die Herren. Tragen Sie Sorge für unsern Wagen und etwas Proviant!“ –
Während diese Unterredung auf dem Jenny-Lind-Zimmer stattfand, war der Polizeicommissar Donner unten in der Gaststube zu einem Entschluß gekommen.
Donner gehörte zu denjenigen Leuten, welche durch einen schlauen Instinct, der bei ihm freilich nichts weniger als unfehlbar war, und durch großen Eifer ersetzen, was ihnen an sonstiger Fähigkeit zum tüchtigen Polizeibeamten mangelt. Eine erhebliche Portion von jener Art Ehrgeiz, welche den Streber bezeichnet, diente seinem Eifer als Sporn.
So saß er denn nach dem Vorfall mit Zehren in der Ecke mit dem Gesicht eines Fuchses, welcher Witterung hat. Daß der Fabrikant Ursache habe, ihn zu fürchten, das unterlag für ihn keinem Zweifel, und hielt er die Entdeckung des heutigen Abends mit der Warnung Urban's zusammen, so ergab sich klar, in welcher Richtung Zehren's Schuld lag. Derselbe mußte ihm zur Beute fallen, wenn er im richtigen Moment zugriff. Vielleicht stand hier noch weit mehr auf der Karte. Aus Urban's Aeußerungen glaubte Donner schließen zu müssen, daß Zehren, wo nicht das Haupt, so doch eines der Häupter jener geheimen Verbindung sei, welcher er auf der Spur war. Wenn dieser Mensch in der That Taubheit fingirte, woran Donner zu zweifeln nicht einmal recht die Lust hatte, wenn derselbe in so raffinirter Weise seine Deckung suchte, dann war er schwerlich schlechtweg ein Verschworener neben andern.
Aber war nicht der richtige Moment eben jetzt vorhanden? Noch saß er dort und sprach mit dem Consul. Vielleicht zehn Minuten noch, und er stand auf, gewarnt von den Unbekannen, dreifach gewarnt durch deren zufällige Entdeckung, und ging hin, um sich vor jeder Ueberraschung zu sichern. Die grellen Augen des Commissars leuchteten, und vor ihnen tauchten geheime Kasten, Schubladen mit Doppelböden und jene kleinen, saubern, verdächtig complicirt gearbeiteten Schlüssel auf, die er aus seiner Praxis kannte; heuchlerische, schuldlos aussehende Büchereinbände klappten die Deckel von einander und entpuppten sich als Enveloppen; darin lagen die kostbarsten Papiere übereinander, und gleich auf dem ersten Blatte stand oben geschrieben: Statuten des Geheimbundes – und wie es dann weiter ging. Ganz im Hintergrunde aber schwebte in leuchtender Schönheit ein bekannter Orden, und seine Strahlen fielen auf ein Avancements-Patent für den Polizeicommissar Donner, eine Berufung in die Hauptstadt. – Und der Polizeicommissar Donner strich sein dünnes, schlichtes, schwarzes Haar hinter den Ohren hervor, schlug sich auf die Schenkel und rückte mit vernehmlichem Räuspern auf dem Stuhle hin und her.
„Ich glaube, ich kann es wagen,“ murmelte er endlich. „Was wird es mir schaden, wenn es mißglückt? Die Schrift auf der Tafel kann ich in jedem Falle auf meinen Amtseid nehmen.“
Er erhob sich, nahm seine Mütze vom Nagel und ging zum Wirthe, dem er rasch die Zeche zahlte. „Sie könnten mir eine Auskunft geben, Vater Schoner,“ meinte er nebenbei. „Wen hat der Zehren dort eigentlich jetzt bei sich im Hause?“
„Die alte Wirthschafterin, die er von seinem Onkel geerbt hat,“ entgegnete Schoner gleichmüthig, während er das Geld in die klirrende Tasche des Beinkleides gleiten ließ.
Der Commissar stolperte die Treppe hinab auf die Straße und verfolgte die Richtung des Canals nach der Brücke zu und über dieselbe hinaus bis dahin, wo die Wasser sich in den Fluß ergossen. Es war schon mondhell; das schwarze Gewirr von Baracken jenseits des Flusses spiegelte sich mit seinen vereinzelten hellen Fenstern in den raschen Strudeln, und man konnte das Wehr rauschen hören, das eine Strecke oberhalb der Canalmündung den Fluß durchsetzte. Er hielt vor einem zweistöckigen Hause an, einem ziemlich einfachen Baue mit Eisenstäben vor den untern Fenstern und einer Treppe; die Thür über dieser war mit einer ziemlich alten Sandsteinarbeit überdacht und mit Schnitzwerk bedeckt. Seitlich bezeichnete noch eine Thorwölbung den Zugang zum Hofe. Vor dem Hause, dicht am Canale, stand eine uralte, mächtige Kastanie, welche ein Sitz von Lattenwerk umschloß.
Donner betrachtete das Haus prüfenden Blicks und bediente sich dann ohne Besinnen eines Klingelzuges. Er mußte eine ziemliche Zeit warten, bevor sich ein schlürfender Schritt auf der Treppe hören ließ. Als die Thür vorsichtig geöffnet wurde, drängte er sich durch die Thürspalte und stand vor einer alten Frau in rothem Kopftuche, welche vor Schrecken über den Anblick der Polizei fast die Küchenlampe fallen ließ. „Jesus Maria,“ brachte sie zitternd über die Lippen, „ich dachte, es wäre Herr Franz. Er ist nämlich nicht daheim.“
„Das ist mir sehr gleichgültig,“ sagte der Commissar brüsk und nahm ihr die Lampe aus der Hand. „Wo ist der Schreibtisch Deines Herrn, alte Eule?“
„Was gefällig?“ fragte diese mit allen Zeichen der Schwerhörigkeit.
„Gott bewahre mich! Ist denn hier Alles taub?“ knurrte Donner, stieß die Frau unsanft bei Seite und stieg die Treppe hinan. Der Bewurf des Hausflurs und der Treppenwand sah ziemlich verwahrlost aus; unter den Stufen der Treppenbiegung ihm zu Häupten hing Spinngewebe hervor. Dennoch waren die Zimmer, in welche er gelangte, nicht ohne Comfort. Wachsteppiche lagen über den Dielen; die Zwischenthüren zeigten Portièren; Oelbilder hingen an den Wänden, und die meisten Möbel waren werthvolle alte Stücke und gut erhalten. Eines der Zimmer war völlig modern ausgestattet, und in diesem machte Donner Halt.
Die Alte kam im Dunkeln hinterdrein getappt; ihre Furcht war der Neugier gewichen. Der Commissar stand vor einem eleganten Schreibtische und zog eine unverschlossen Schublade nach der andern heraus, um sie sämmtlich nach flüchtigem Durchstöbern ihres Inhalts wieder zuzuwerfen. Zwei Fächer nur spotteten des Versuches, sie zu öffnen.
Donner machte dem Weibe wiederholt das Zeichen des Aufschließens vor, aber sie schüttelte den Kopf. „Die Schlüssel wird wohl Herr Franz haben,“ sagte sie, „da müssen Sie warten, bis er kommt, Herr Obercommissar.“
Donner brummte: „Daß ich ein Narr wäre!“ und zog einige Schlüssel aus der Tasche, welche indeß so wenig paßten, wie ein paar andere, welche in der Stube aufzutreiben waren.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_086.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)