Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
|
Doctor Urban hatte ihr ruhig zugehört. „Ich dächte, noch bequemer wäre es, wenn Du mir mündlich sagtest, was darin steht, Liebste. Vielleicht hörst Du aber zuerst, was ich Dir wahrscheinlich auch schriftlich hätte sagen müssen, da Dein Bruder sich weigerte, die Mittheilung zu übernehmen. Mit der Hoffnung auf ihn ist es so gut aus wie mit derjenigen auf Deine Mutter. Sie hat mir Zehren als Deinen Bräutigam vorgestellt.“
„Ich ahnte es,“ stieß Emilie heftig hervor. „Und dieser Mensch – wisse es! – besitzt die Frechheit, mir in das Gesicht hinein zu erklären, daß ihm alle Mittel recht seien, um mich zur Ehe mit ihm zu zwingen. Dieser Mensch ist ein solcher Heuchler und so beschränkt zugleich, daß er sich geberdet, als wisse er nichts von unserm Verhältniß, und als würde ich ihm glauben, daß er nichts wisse. Ah! es ist sehr bequem, taub zu sein; es ist ein Vorwand, um das nicht zu wissen, was man nicht wissen will. Hier steht es, Heinrich“ – und sie zog den Brief hervor und zerriß ihn – „ich reiße die Bande des Blutes durch wie diesen Brief, wenn ich auf Dich rechnen kann. Sind diese Bande von unzerstörbarem Stoff? Nein, denn der Tod löst sie, und ich werde todt sein für die Meinigen, so lange sie es so wollen. Vielleicht daß ich Reue empfinden werde, später, irgend einmal. Was kann mich das jetzt kümmern? Ich weiß keinen andern Ausweg aus dieser Drangsal. Ich vertraue Dir Leib und Seele an, Heinrich; willst Du mich retten, wie Du geschworen hast?“
Vornehm-prächtig stand das schöne Mädchen da, mit den stolzen Augen und dem entschlossenen Ausdruck um den feinen Mund, die Rechte, welche den Brief zusammengeballt hielt, wie beschwörend gehoben, daß der weiße Arm in der Dunkelheit der Baumgruppe leuchtete – und den Doctor faßte eine trunkene Empfindung von Glückseligkeit. Er nahm die ausgestreckte Hand und zog die Herbe, Trotzige widerstandslos an sich. „Frau Venus,“ stammelte er, „ich bin Dir verkauft und zerschlage alle meine Götzenbilder, Freiheit, Constitution, Republik – ich weiß selbst nicht einmal mehr, wie sie eigentlich heißen – ich will Dich allein anbeten.“
„Sprich nicht so vermessen, Heinrich!“ sagte sie ernst; „das kann Deines Herzens Meinung nicht sein. Du mußt weiter wirken für die heilige Sache des Volkes, und ich werde Dir kein Hinderniß sein, sondern ein Sporn, wenn Du müde bist; ich werde es sein, die Dir Kühlung fächelt, wenn Dir heiß wird von der Arbeit.“
„Aber Dein Bruder?“ fragte er etwas ernüchtert. „Außerhalb seiner Organisation ist hier die Arbeit ein Unding, und es steht dahin, ob er mich neben sich duldet, nachdem Du unter solchen Umständen mein Weib geworden.“
Sie wollte antworten, aber es geschah in diesem Augenblick etwas Unerwartetes. Hinter dem Amor, in den Rhododendronbüschen klang es wie ein leises Rauschen gestreifter Blätter, und plötzlich fluthete ein Regen von Rosen und Rosenblättern über die Beiden, daß der Doctor erschreckt ein paar Schritte zurück trat.
„Was ist das?“
„Das ist der Segen des großen Gottes Amor!“ entgegnete eine verstellte tiefe Mädchenstimme hinter dem Sockel. Ein kurzes, lustiges Lachen folgte, und Toni sprang wie ein Reh durch die Sträucher.
„Alle guten Geister loben Gott den Herrn,“ sagte sie ernsthaft. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ein Tête à Tête überrasche. Guten Abend, Herr Doctor Urban!“
Die Beiden schüttelten sich die Rosen vom Kopfe und aus den Kleidern, und der Doctor verneigte sich lachend. „Ich denke, wir sträuben uns nicht mehr, liebe Milli, Fräulein Seyboldt dort einzugestehen, was sie weiß.“
„Sie werden doch jetzt nicht leugnen wollen, mein Herr?“ versetzte sie mit geheucheltem Erstaunen. „Aber was nun?“ fügte sie etwas beklommen hinzu, „gehen wir in das Haus hinein? Wenn ich recht vermuthe, so wollten Sie meinen Vater sprechen, und ich glaube, daß er zurückgekehrt sein wird. Kommen Sie! Ich bin die dame d'honneur und nehme Sie unter meine Flügel. Ich denke, jetzt sollen Sie mich endlich respectiren, Herr Doctor, und nicht mehr so en bagatelle behandeln. Ich weiß Ihr Geheimniß, und wehe Ihnen, wenn Sie mich reizen! Ich lasse es ausklingeln.“
In den Gastzimmern des Wiedenhofes befand sich, wie allabendlich, ein etwas gemischtes Publicum, das sich in den nicht sonderlich eleganten Räumen hin und her bewegte. Der größere Theil desselben gehörte den höheren Classen der Gesellschaft an – Kaufleute, zumeist aber Männer, deren Aeußeres sie einer Beschäftigung zuwies, welche wissenschaftliche Bildung voraussetzte, dazwischen ein paar derbe Figuren aus dem wohlhabenden Bürgerstande. Die zahlreichsten Gäste umfaßte ein weitläufiger Raum, den eine Reihe von Balkenpfeilern in zwei Hälften schied; jede derselben war von einem dürftigen Kronleuchter erhellt, von denen der eine über einem Billard hing, der andere über einer gedeckten Tafel. Weiterhin füllten Spieltische den Raum, an den zwei Talgkerzen kenntlich, welche auf denselben standen.
Es war übrigens ein seltsamer Zug von Einheit, der durch dieses Publicum ging. Einem feinen und aufmerksamen Beobachter konnte es nicht entgehen, daß der Verkehr dieser Männer etwas Freimaurerhaftes hatte. Aber es gehörte, wie gesagt, besondere Aufmerksamkeit und ein gewisser Grad von Menschenkenntnis dazu, um dies zu gewahren. Gleichwohl war der Wiedenhof keineswegs das Local einer geschlossenen Gesellschaft, sondern ein Hôtel; es saßen ein paar Fremde unter den Gästen, welche Handlungsreisende zu sein schienen und sich deutlich von den andern unterschieden.
Sie waren jedoch schwerlich zum ersten Male Besucher des Wiedenhofes. Einer von ihnen, welcher sich durch ein ziemlich blühendes Gesicht mit sorgfältig abgezirkeltem Backenbärtchen auszeichnete und im Begriffe stand, das Fleisch eines Huhns von den Knochen zu lösen, wurde plötzlich von einem bebrillten älteren Herrn derb auf die Schulter geschlagen, welcher Letztere sich im Gegensatze zu jenem eines ungehemmten Bartwuchses erfreute. „Wieder einmal da, Räderchen?“ sagte der mit der Brille lustig. „Was macht Paris?“
„Ah, Sie sind’s, Herr Stadtsecretär? Nun, es amüsirt sich. Was soll Paris weiter thun?“
„Räder,“ murmelte der Andere mit dumpfer Stimme, „Paris tanzt auf einem Vulcane. Haben Sie nichts gemerkt?“ Und dabei zwinkerten seine Augen so drollig, daß man seine Worte für die größte Schelmerei halten mußte.
„Ach, Unsinn!“ meinte der Reisende, steckte seine Serviette fest und wandte sich wieder dem Huhne zu. „Ich bin alle vierzehn Tage einmal dort, aber ich will Schmalz heißen, wenn – ja so, da sitzt ja Einer im rothen Kragen. Nun, ich versichere Sie, Herr Stadtsecretär, daß die Leute gerade so dort tanzen, singen, in die Oper und spazieren laufen und fahren, wie sonst auch. Ich habe noch bei keiner schönen Pariserin irgend ein Mordinstrument bemerkt, ausgenommen die Dolche, welche sie alle in den Augen haben. Ein Völkchen, Herr Stadtsecretär! – es geht nichts darüber. – Wollen Sie einen Schluck Marcobrunner mit mir trinken?“
„Berauben Sie sich nicht! Ich muß zu meiner Partie drüben –“
„Ah, Sie spielen Whist –“
Der Stadtsecretär entfernte sich und schlug im Vorübergehen noch Jemanden auf die Schulter. „Was machen Sie denn einmal hier im Wiedenhofe, Herr Zehren?“ redete er den überrascht zu ihm aufblickenden Fabrikanten in der nämlichen heiseren Lippensprache an, deren sich alle dem Tauben gegenüber bedienten, wobei er sich ein wenig zu diesen; niederbog. Zehren richtete einen fragenden Blick auf den Secretär:
„Ich suchte Karl Hornemann. Ist er noch nicht hier anwesend?“
„Noch nicht,“ meinte kopfschüttelnd der Stadtsecretär; „er kommt aber sicher hierher.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_072.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)