Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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seinem Haupte schweben. Abgesehen davon, daß es unmenschlich ist, Jemandem eine abgebüßte Strafe ewig vor Augen zu halten, wird der Betreffende dadurch in der Regel verhindert, sich eine ehrliche Existenz zu gründen, und es ist daher kein Wunder, wenn er dem Verbrechen wieder in die Arme getrieben wird. „Die Polizeiagenten sind unsere ärgsten Feinde,“ sagte einmal ein Ticket-of-leave-Inhaber vor Gericht, „sie sagen Jedermann, wer wir sind, sodaß uns Niemand Arbeit geben will. Was bleibt uns also übrig, als zu stehlen oder zu verhungern?“
Selbst das Aufheben der ursprünglichen Clausel, daß der Entlassene sich von Zeit zu Zeit bei der Polizei zu melden habe, hat keine Aenderung in dem dummen Benehmen der Geheimpolizisten herbeigeführt. Die Gefangenen denken nicht mit Unnrecht, daß eine Wohlthat, durch die sie gebrandmarkt werden, nicht viel werth sei, und die Meisten lehnen es daher ab, vor ihrer Zeit entlassen zu werden; sie warten lieber, um sicher zu sein, daß ihnen keine unberufene Spürnase etwas anhaben kann. Ja, Manche führen sich während ihrer Gefangenschaft absichtlich unanständig auf und ziehen sich Disciplinarstrafen zu, nur um sich der Gunst, ein Ticket-of-leave zu erhalten, unwürdig zu zeigen.
Da wird es in Frankreich in dieser Beziehung ganz anders gehalten. Ein Londoner Fabrikant, der einen Franzosen in seinem Bureau hatte, war mit ihm sehr zufrieden und wollte ihn befördern, hatte ihn aber im Verdachte, daß er unter polizeilicher Aufsicht stehe. Als ein Pariser Freund, den er beauftragte, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, auf der Präfectur Nachfrage hielt, antwortete ihm der Polizeichef: „Ich kann nicht nachsehen lassen, ob der junge Mann unter Aufsicht steht oder nicht, denn die Ihnen zu gebende Auskunft könnte die Folge haben, daß derselbe vor die Thür gesetzt wird. So hätten wir ihn der Möglichkeit beraubt, seinen ehrlichen Namen wieder zu gewinnen und sich eine anständige Zukunft zu gründen. Das hieße gegen die gesellschaftlichen und menschlichen Gesetze sündigen.“
Ueberdies hat das Ticket-to-leave-System den Grundfehler, daß es die Gefangenen zur Heuchelei verleitet. Wie will man sich von der Besserung eines Gefangenen überzeugen? Etwa durch das gute Benehmen? Dasselbe kann nicht maßgebend sein, denn wenn Einer loskommen will, so kann er sich ja ordentlich aufführen, ohne damit schon ein anständiger Mensch geworden zu sein. Im Gegentheil, die Gewohnheitsverbrecher pflegen sich gerade am besten zu benehmen, weil sie das Gefängniß als ihr Heim betrachten. Andere geberden sich gegen den Kerkercaplan fromm, sagen ganze Bibelstellen her, empfangen die Sacramente und thun überhaupt, als wären sie reuig. Der Geistliche läßt sich in der Regel nur zu leicht täuschen und empfiehlt der Gefängnißverwaltung, die auf ihn baut, die Betreffenden zur Entlassung. Sofort nach der Entlassung aber beginnen diese „Büßer“ ihr altes Lumpenleben wieder. Etwa der fünfte Theil der Ticket-to-leave-Männer pflegt schon kurz nach der Entlassung wieder wegen erneuten schlechten Lebenswandels eingesperrt zu werden.
Das Facit ist: die Schlechten bessert ein beliebiges Stück Pergament nicht; die Guten macht es schlecht. Wie es aber kommt, daß die Hetzereien der Detectives nicht energisch verboten werden, ist uns ein Räthsel.
Die Stilfserjochstraße in Tirol, bekanntlich der höchste (8610 Pariser Fuß) fahrbare Hochalpenpaß in Europa, ist ein im wahren Sinne des Wortes hochinteressanter Kunstbau, der, eine Reihe von Jahren von der österreichischen Regierung arg vernachlässigt, nun wieder vorzüglich in Stand gehalten und von Reisenden aller Nationen in den Monaten Juni bis October lebhaft befahren und begangen wird. Sie verläßt zwischen den Poststationen Mals und Eyers bei dem einsam gelegenen Gasthofe Spondinig die tiroler Reichsstraße, überschreitet die Etsch und verläßt nach Pràd das breite sonnige Thal des Vintschgaues. Ueber kühn gespannte Bogenbrücken, durch wildromantische Schluchten führt die Straße aufwärts zu dem herrlich gelegenen Dorfe Trafoi, erklimmt an den Abhängen und Geröllhalden die 6700 Pariser Fuß hoch gelegene Poststation Franzenshöhe und weiter, in unzähligen Windungen, das Stilfserjoch (auch häufig Wormserjoch genannt). Die Straße, so kühn in ihrer Anlage, gehört dennoch zu den sichersten Fahrstraßen der Alpengebiete, und mit Ausnahme einiger Ruinen, ehemaliger Wegeinräumer-Häuser, welche in ihrer Zerstörung Zeugniß geben von den heftigen Kämpfen, die hier wiederholt zwischen tiroler Scharfschützen und italienischen Freischärlern stattgefunden, finden wir keine der in Tirol üblichen, an Unglücksfälle mahnenden Martersäulen oder Votivtafeln. An vielen Orten sieht der Wanderer gewaltige, natürliche Felstunnels, durch die der Gletscherbach sich brausend drängt; er zieht hart neben den gewaltigen Eiscolossen der Ortlergruppe vorüber, deren Abstürze sich tief unten im Trafoier Thale verlieren; er wandelt über verschlissenes Gletschergestein, aber selbst in den unwirthbaren Höhen nahe dem Joche findet sich keine Stelle, die auch nur im Geringsten gefährlich erscheinen könnte.
Es war nun dem Sommer des Jahres 1876 vorbehalten, die vielgerühmte Sicherheit der Stilfserjochstraße in Frage zu stellen, da sich die Schreckenskunde verbreitete, es sei eine Dame bei einem Spaziergange nahe von Trafoi an der Straße verunglückt und durch einen Fehltritt in den Abgrund gestürzt. Für jene, welche die Gegend genau kennen, war diese Kunde um so überraschender, als der bezeichnete Platz, wo sich dieses Unglück ereignet haben sollte, nahezu alle Wahrscheinlichkeit eines zufälligen das Leben gefährdenden Sturzes ausschloß. Allen Reisenden, die je die Straße beschritten haben, wird ungefähr eine Gehstunde oberhalb Trafoi der Punkt unvergeßlich geblieben sein, wo in der Tiefe das Kirchlein „zu den drei Brunnen“ sichtbar ist und die wilden zerrissenen Gletscherhänge des Ortler und Madatsch (siehe Illustration) das Thal abschließen. Ein einfaches Kreuz und eine Ruhebank bezeichnen noch außerdem diese Aussicht an der „weißen Knot“. Kaum hundert Schritte von dort entfernt fand man die Leiche der verunglückten Dame, und bald erfüllten Gerüchte in wahrscheinlichen und unmöglichen Variationen die in furchtbare Aufregung versetzten Gemüther der Einwohner der Umgegend.
Der Glaube an eine natürliche Todesart der Verunglückten wurde durch das gleichgültige Benehmen ihres Mannes, der den Alpenbewohnern bald verdächtig wurde, sofort erschüttert, und nachdem vorübergehend die Idee eines Selbstmordes aufgetaucht, lispelte man erst leise, dann immer lauter und lauter das Wort: „Ein Gattenmord“. Auf Grund dieser Verdachtsgründe wurde der Gatte in London in Haft gehalten.
Wir lassen hier den authentischen Text des im Verhör mit dem wichtigsten Zeungen, dem Gasthofbesitzer Ortler in Trafoi, gerichtlich aufgenommenen Protokolls folgen. Dasselbe wurde den Polizeigerichten in London eingesandt.
„Am Sonntage, 16 Juli langten bei mir eine Dame und ein Herr in einem zweispännigen Wagen, von Spondinig kommend, an. Die Dame war groß und corpulent; die Herrschaften dinirten mit anderen Gästen im allgemeinen Speisesaale. Um zwölf Uhr verließen sie das Hotel in demselben Wagen. Die Dame sprach nur wenig. Ich sah ihr an, daß sie von Stande war. Sie trug sehr kostbare Schmucksachen, eine goldene Halskette von der Dicke eines Fingers, welche nur über den Kopf abgenommen werden konnte. Eine Chatelaine von Stahl, an der Seite hängend, fesselte besonders meine Aufmerksamkeit. Nachmittags kehrte der Kutscher ohne die Herrschaften wieder zurück. Gegen sechs Uhr traf der Herr, Namens Mr. Tourville, wieder ein, erzählte, daß seine Frau einen Fall gethan habe, und zeigte mit der Hand auf seine Schläfe, dabei bemerkend, daß sie in dieser Gegend verwundet sei und blute. Mr. Tourvillee war nicht aufgeregt, noch schien ihm die Affaire wichtig. Er ließ den Kutscher rufen und sagte ihm, seine Frau sei gefallen, an einem ungefähr eine halbe Stunde entfernt gelegenen Orte, er, der Kutscher, solle sie mit vier Leuten abholen. Ich schloß daraus, daß die Frau beim Kreuze nahe beim Wasserthale liege. Mr. Tourville verlangte dann Wein, von dem er jedoch sehr wenig genoß, blieb ungefähr eine halbe Stunde und befahl dann, daß der Wagen mit den Leuten ihm folge.
Gegen neun Uhr fingen wir an, die Sache in ernsterem Lichte zu betrachten, und bemerkten, daß, wenn die Dame nur
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_052.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)