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Seite:Die Gartenlaube (1877) 024.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Seltsame Stimmen flüsterten in der Luft, aus dem Gesträuch, aus den Wänden, und sie predigten von Freiheit und Volksrechten; sie predigten das Wort der kommenden Erlösung. Im Verborgenen hie und da fanden sich jene Propheten, lautere und unlautere, welche vor einer gläubigen Gemeinde die heimliche Sprache der Zeit deuteten und sehnlich warteten, um auf den Dächern rufen zu können, wessen ihre Herzen voll waren.

Jene Windwirbel waren Gewitterboten, und im Westen blitzte es flüchtig auf. Aber der Sturm war noch nicht so nahe, wie die Propheten wünschten; denn man schrieb erst das Jahr 1847.

Die schöne Emilie in dem alten Hause auf der Canalstraße stand dem Allen nicht so harmlos gegenüber, wie Frauen sonst wohl einer politisch bewegten Zeit. Heute indeß, wo sie, müde von der durchwachten Nacht, in dem Stübchen hinterm Laden saß und vom Fenster in das friedliche Gäßchen hinab sah, welches sie im Mondschatten in Liebe und Herzensnoth durchwandelt hatte, dachte sie nicht an die unheimlichen, aufregenden Clubgeschichten, in welche ihr Bruder die kluge, großherzige Schwester einzuweihen pflegte und über welche sie patriotisch mit ihm schwärmte; heute hatte sie nur Gedanken für ihr eigenes jammervolles Schicksalsräthsel, und wie sie auch brütete und hin- und hersann, es wurde ihr nicht klarer deswegen.

Es war still in dem Stübchen mit seinen altmodischen Möbeln, mit dem braungebeizten, kattunbezogenen steifen Armsessel, in dem das schöne Mädchen wie eine farbige volle Blume saß, welche aus der Modererde eines Baumstumpfes erblüht ist. Das Farbigste an ihr war freilich heute ihr zartes rosa Sommerkleid und das schwarze Sammetband, das sie um den Hals trug. Ihre Augen waren matt und die Wangen trübe; das blonde, ungewöhnlich dicke Haar war nachlässiger als sonst zu jenem wunderlich hohen Geflechte aufgesteckt, wie es die Mode der Zeit liebte. Die Mutter, welche sich sehr unscheinbar trug, ging vom Laden ab und zu; nur selten fiel ein Wort zwischen Beiden, und dann sprach die Mutter in ihrem gewöhnlichen derben, kühlen Tone und erhielt regelmäßig eine einsilbige, zerstreute Antwort. Zuweilen, wenn sie hinausging, flackerten die Blicke der matten braunen Mandelaugen in nervöser Unruhe auf und verfolgten sie mit stummen Vorwürfen.

Das Fenster stand offen; die Sommerfliegen schwärmten, und die warme Luft der Straße zog herein. Emilie hatte den Arm auf das Fensterbrett gelegt und stützte müßig den Kopf in die Hand. Die Mutter hatte sie heute noch nicht gemahnt wie sonst, daß die Küche Menschenhände brauche und daß sie dieselben entbehre, wenn das Mädchen müßig im Lehnstuhle träume. Die alte Aufwärterin war längst da gewesen und hatte ihr Theil besorgt, und es war doch noch so viel zu thun übrig.

Die Küche! – Fünfzehn Jahre war Emilie alt gewesen und hatte in der rothbraunen, mit Bolus gestrichenen Küche, auf deren Fußboden der weiße Sand knirschte, gesessen und Aepfel schälen müssen, das Kleid aufgesteckt und die blaue Schürze über den Knieen; damals war er zum ersten Male als blutjunger Arzt mit dem Bruder in’s Haus gekommen, und geradewegs in die Küche. Gerade so keck war er aufgetreten und mit den nämlichen Feueraugen wie jetzt noch, und er hatte damals mehr Schalen zur Mutter gebracht als sie selber, und all’ ihr stummer Stolz hatte ihn nicht abgeschreckt, mit ihr zu scherzen. Das war schon fünf Jahre und länger her. Sie war inzwischen üppig aufgeblüht, und er war auch nicht mehr ganz derselbe, sondern herber, unruhiger, spröder geworden. Manchmal hatte sie in der letzten Zeit ein Gefühl gehabt, als liebe er sie gar nicht mehr mit der Leidenschaft, die ihn zu ihren Füßen geführt – damals – ja damals, als sie den Paradiesesgarten ihrer Liebe mit Zittern betreten hatte. War es ihr doch selbst zuweilen, als sei ihr Herz nüchtern wie ausgebrannte Asche. Nur wenn er vor ihr stand und sie mit seinen geheimnißvollen Augen so dunkel und brennend ansah und in ihr Ohr die berauschenden Worte flüsterte, die er zu sprechen verstand wie Niemand sonst, dann fühlte sie den Faden wieder, an dem ihre Seele flatterte wie der gefesselte Falter, welchen ein Knabe als Spielzeug fliegen läßt und wieder an sich zieht.

Und doch – war er wirklich der adelige Geist, als den sie ihn bewunderte und anbetete? War alles echt an ihm? Es war ihm so leicht, eine Stimmung zu zerreißen und eine andere zu wählen; sie vermochte nicht mehr in seinen Liebesworten gedankenlos und unbekümmert sich zu schaukeln. Ah bah! er war ein Mann, und Männer sind aus härteren Stoffen gebildet.

Sie wollte ihn anbeten. Was hatte jener Andere, der sie zu lieben versicherte, sich zwischen sie und ihren Willen zu drängen? Da stand er, mitten im Wege zu ihrem Glücke, wie vor ein paar Jahren schon, als wäre er ihr Verhängniß und unabweisbar, mit dem schlicht gescheitelten blonden Haar und dem etwas verschlossenen, klugen, ernsten Gesicht, mit den lichtblauen verlegenen Augen und der vorsichtigen Haltung des Tauben. Sie mußte ihren Haß um so mehr steigern, je mehr er persönlich dazu angethan war, ihn zu entwaffnen. Seine etwas harte, hastige Stimme machte sie nervös. Sie wollte ihn weder sehen, noch hören. Fort mit ihm!

„Ich wollte, er wäre todt,“ sagte sie halblaut vor sich hin.

Draußen kam Jemand durch den Hausflur, und sie erkannte ihn am Schritt und sprang auf. Es war ihr Bruder Karl, der wunderliche Mensch mit dem Käppchen und dem langen Rocke. Jetzt bei Tage sah man deutlicher, daß er höchstens in der Mitte der Dreißiger stehen konnte, und man sah noch etwas: daß er sehr große Hände und Füße hatte. Das Mädchen schlang die Arme um seinen Hals; er neigte sich und küßte ihr sanft die Stirne.

„Wo kommst Du her, Karl? Wart ihr die ganze Nacht über im Club? Und warum bist Du nicht schon vor ein paar Stunden gekommen?“

„Der Club ist gesprengt,“ sagte er mit seinem stillen Lächeln.

„Um Gottes willen, was ist geschehen?“

„Ruhig, Milli! Nicht für immer. Die Polizei war uns nur auf der Spur, und wir sind ihr vielleicht nur um eine halbe Stunde zu früh vor den Händen entwischt. Was schadet das? Unsere Sache schläft so wenig wie die Sonne, wenn sie des Abends unter den Horizont gesunken ist. Ich hoffe, daß wir in ein paar Wochen wieder beisammen sind; ich werde ein Wort im Vertrauen mit dem Oberbürgermeister reden, für jetzt aber ist jedenfalls die Gefahr schon beseitigt.“

„Und wo warst Du bis jetzt?“

Er lächelte wieder mit einer Mischung von Schalkheit und inniger Theilnahme im Gesicht. „Bei Jemandem, der Dich gern mit dem Trauringe an sich ketten möchte, Milli.“

Ein jähes Roth streifte über ihre Wangen, und ihr Auge sah ihn halb abwehrend und halb mit scheuer Frage an.

„Später!“ sagte er und wandte sich um.

„Willst Du nichts genießen, Karl?“

„Ich danke, Kind. Ich gehe auf mein Zimmer und arbeite. Die Medicin soll, so Gott will, auch bald fertig werden, und die Menschheit wird sie brauchen können, denn an Wunden wird es ihr nicht fehlen, wenn der Sturm durch das Land saust.“

Er verließ das Zimmer, und sie folgte ihm bald. Gewiß, es war der Doctor, mit dem er gesprochen hatte, gesprochen über das, was sie marterte seit Tagen nun schon. Sie stand in der Küche und wehrte mit dem Küchentuch die Fliegen von ihrer Arbeit, und sie kamen immer wieder – immer wieder und schwarz wie ihre Gedanken. – –

(Fortsetzung folgt.)




Kanossa.
Nachdruck verboten.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)

Der Papst ersah falkenäugig seinen Vortheil. Seine Legaten in Deutschland schürten eifrig das Feuer der Rebellion. Aber diese sank vor dem kräftig geführten Königsschwerte Heinrichs vorderhand bei Hohenburg an der Unstrut (1075) besiegt zu Boden. Nun forderte Gregor von dem jungen Könige, daß dieser in Anerkennung der kirchlichen „Reform“ solche Bischöfe, welche ihre Stäbe mittels Simonie erlangt hätten, absetzte und seine Räthe, welche Simonie getrieben, entließe. Widrigenfalls sollte mit kirchlichen Strafmitteln gegen ihn, den König selbst, vorgegangen werden. Heinrich, der wohl fühlte, wohin Gregor zielte und daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_024.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)