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Seite:Die Gartenlaube (1877) 008.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

am Berge ihn auch bekommt. Dann aber kommen auch wieder längere sonnige und schmerzfreie Tage. Die Herzen athmen wieder auf.

Mit den gegenseitigen Briefen wandern zugleich allerlei süße Sachen, als da sind: Gebackenes, Kirschen, Aprikosen, Thee, mit hin und her. Auch mit Blumen schmückt die sinnige Frauenhand das schmucklose Zimmer des Freundes. Trauliche Erkundigungen über den Schlaf und Traum der Nacht ziehen mit hin und her. Die Leidenschaft aber hält sich dabei tief im Versteck. Ist doch der wahrhaftig Glückliche sich seines Glückes meist nie bewußt. „Ich möchte Ihnen oft so viel sagen,“ schreibt einmal Schiller deutungsvoll, „und wenn ich von Ihnen gehe, habe ich nichts gesagt. Bin ich bei Ihnen, so fühle ich, daß mir wohl ist, und ich genieße es mehr, als daß ich es mittheilen könnte.“

Schiller ging aber auch einer innigeren, sein Herz verpflichtenden Annäherung mit Geflissenheit aus dem Wege, wenigstens hatte er sich das von vornherein vorgenommen. „Ich werde,“ schrieb er schon in den ersten Tagen seiner Uebersiedelung an Körner, den Vertrauten seiner Seele, „eine sehr nahe Anhänglichkeiten an dieses Haus und eine ausschließende an irgend eine einzelne Person aus demselben sehr ernstlich zu vermeiden suchen. Es hätte mir“ – das Geständniß kann er dabei doch nicht zurückhalten – „etwas derart begegnen können, wenn ich mich mir selbst hätte überlassen wollen.“ Als Grund führt er dabei an, daß er „das bißchen Ordnung, das er mit Mühe in seinen Kopf, sein Herz und seine Geschäfte gebracht habe, durch eine solche Distraction nicht wieder über den Haufen werfen wolle.“ Es sollte sich das wohl auf sein kaum zum Abschluß gekommenes Verhältniß zu Charlotte von Kalb oder seine „Dresdener Liaison“ beziehen. Bei dem, was sein Herz in der Sache bereits gesprochen hatte, war das freilich eine etwas eigene, jedenfalls aber eine etwas späte Vornahme. Vielleicht hatte sie nur die reservirte Haltung Lottchens hervorgebracht. Er fühlte das wohl auch selbst; er traute seinem Herzen doch nicht recht und nahm deshalb seine Zuflucht zu einem etwas seltsamen, sehr phantastisch angehauchten Experimente. Er nahm sich nämlich vor, sein Herz – es sind dies seine eigenen Worte – durch Vertheilung (auf beide Schwestern) zu schwächen.

Dieses löbliche Vorhaben hinderte ihn indeß nicht, oft die seicht gewordene Saale zu durchwaten, um desto rascher bei den Schwestern zu sein, in Folge welchen Umstandes sich der alte rheumatische Kobold wieder von Neuem anmeldet, schlaflose Nächte bringt und seine Wohnung in einem hohlen Zahne aufschlägt, dort aber so gewaltig pocht und hämmert, daß die Wange schwillt und das Gesicht sich „bis zur Unkenntlichkeit“ verzerrt. Da entschließt sich des Dichter rasch, seine Umsiedelung nach Rudolstadt vorzunehmen, obwohl er sich sagen muß, daß er damit der Gefahr nur näher in’s Auge sieht.

Er wohnt jetzt den Freundinnen so nahe, daß seine Augen ihr Fenster erreichen, sofern nicht der Sturmwind die dazwischen liegenden Bäume und Wirthshausschilder in Unruhe versetzt. Die Nähe thut ihm wohl, und doch knüpft er daran sofort wieder den Wunsch, daß sie eine noch größere sein möchte, um das Bild Lottchens im Spiegel aufzufangen, der über dem Schreibtische seines Platz erhielte. Dann könnte man mit ihr sprechen, ohne daß es ein Mensch wüßte. Um für die traulichen Besuchsabende, die mit den kürzer werdenden Tagen, sich längten, einen geistigen Mittelpunkt zu gewinnen, lesen sie jetzt gemeinschaftlich Homer, von dem die Schwestern bislang nur einige Bruchstücke kannten. „Schiller las uns Abends die Odyssee vor,“ schreibt in späteren Jahren Caroline, „und es war uns, als rieselte ein neuer Lebensquell um uns her.“ Die bilderreiche Sprache des alten Griechen überträgt sich dabei scherzhaft in die kleinen Billete, die auch jetzt noch hin und wider gingen. Da übersetzt sich der Gutenmorgengruß in den Wunsch, daß nach der langen Ruhe im „zierlich gezimmerten Bette die dämmernde Frühe mit Rosenfingern den Schläfer erweckt haben möge“, und es sind nicht mehr so ganz gewöhnliche, sondern schon „geflügelte“ Worte, die jetzt gewechselt werden. Mitten hinein in dieses poetische Rankengewächs fällt denn wohl die prosaische Einladung zu einem Gerichte thüringer Klöße.

Dann erhebt sich plötzlich wieder Gott Amor aus seinem unfreiwilligen Verstecke und macht die Dialektik der „Vertheilung“ zu Schanden. Die Stimme, welche ihn hervorlockt, ist die einer wenn auch nur gelinden Eifersucht.

Lottchen ist zu einem Balle eingeladen, ein Vergnügen, dem Schiller von vornherein abhold ist, da er aus früheren Erfahrungen weiß, daß es das Blut unordentlich erhitzt und die besseren Menschen den armseligen so nahe bringt und mit ihnen vermischt, die feineren Gefühle und die edleren Genüsse des Geistes aber gern auf eine Zeitlang hinwegschwemmt. Der Gedanke nun, Lottchen auf einem solchen Balle zu wissen, macht ihm die lebhafteste Unruhe – er drängt sich störend in seinen Schlaf, in seine Träume. Froh erleichtert begrüßt er den Morgen, weil er ihm die Gewißheit giebt, daß sie nicht mehr auf dem Balle ist. Er kann sich unter dem Einflüsse dieser Qual nicht enthalten, ihr mit einem fast herben Egoismus seine Verstimmung mitzutheilen: „Es ist mir ordentlich lieb, daß er – der Ball – vorbei ist. So sehr ich das Vergnügen meiner Freunde liebe, so wünsche ich Sie doch so selten als möglich auf Bällen. … Wenn ich es könnte, sehen Sie, ich würde so ungerecht sein und Sie allen anderen Menschen mißgönnen. Ich weiß wohl,“ fügt dann sein Kleinmuth gleich hinzu, „daß ich kein Recht darauf habe, aber es ist etwas so gar Schönes, sich das, was Einem lieb ist, als sein Eigenthum zu denken, und was ich denke, thut Ihnen ja auch nichts. Lassen Sie nur also immer diese Freude!“


Kanossa.[1]
Von Johannes Scherr.

Hochidealische Religionen wie der Buddhismus und das Christenthum tragen vom Anfang an einen Widerspruch in sich, welcher herauskommt, sobald sie in der Welt zur Geltung und Macht gelangen. Denn die Wirklichkeit rächt sich an dem Ideal dadurch, daß sich es zur Karikatur seiner selbst macht. Was ist aus der Lehre der Weltverleugnung und Weltverachtung, welche Buddha und Christus gepredigt haben, auf geschichtlichem Boden geworden? Hüben wie drüben ein hierarchisches System, welches eingestandenermaßen das Leben bedingen und bestimmen, die Welt so oder so besitzen und beherrschen will. Auf die idealische Frage nach der Menschenbruderschaft gab die Geschichte den faulen Lamaismus und den herrschsüchtigen Papalismus, die Ketzerverfolgungen und die Religionskriege zur Antwort. Die metaphysische Substanz des buddhistischen wie des christlichen Dogma’s verflüchtigte sich spurlos in dem Pomp und Geräusch eines auf sinnliche Wirkung berechneten Kultus. Die abstrakte Doktrin verwandelte sich in konkreten Götzendienst. An die Stellen der idealisch-erhabenen Erscheinungen des Königssohnes von Kapilavastu und des Zimmermannssohnes von Nazara traten ihre größenwahnwitzig-realen Zerrbilder, der Tale Lama zu Hlassa und der Papst in Rom.

Der Mensch will getäuscht sein. Das verlangt seine Natur, welche nach Täuschung lechzt und die Wahrheit mehr fürchtet als Feuer und Schwert. Vom Beginne der menschlichen Gesellschaft bis zur heutigen Stunde war die Lüge ihr Schoßkind. Sie wird es auch bleiben, so lange die Gesellschaft dauert. Erst der letzte Mensch wird der letzte Sichselbstbelüger, der letzte betrogene Betrüger sein.

Die Illusion ist, so zu sagen, die Butter zum täglichen Brote des Menschendaseins. Je dicker sie aufgetragen wird, desto lieber beißt der Mensch darein. Das haben alle Gründer und Schwindler gewußt und benützt vom Apollonius von Tyana bis zur Spitzeder. Am besten aber wußten und am ausgiebigsten benützten es zu allen Zeiten die Hierarchen. Unermüdlich drehten sie die Kurbel des Glaubensfasses, worin „die Milch der frommen Denkart“ zu Illusionen gebuttert wurde. Schon in den Tempeln von Memphis und Babel, war ihnen klargeworden, daß man dem menschlichen Täuschungsbedürfniß alles, aber auch gar alles zumuthen dürfte.

  1. Zum Gedächtniß der Januartage von 1077.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_008.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)