Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1876) 748.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


ehrlosesten Verbrecher, der einen der höchsten Ehrenposten der Republik bekleidet hatte und dessen Schuld durch Zeugen und Selbstbekenntniß in allen Details so klar bewiesen worden war, daß auch die geschickteste Vertheidigung nichts davon hatte wegdisputiren oder auch nur mildern können, war in die Hände der Senatoren eines großen Volkes gelegt worden, das so oft schon den stolzen Vergleich zwischen diesem seinem Senate und dem des alten weltbeherrschenden Roms gezogen hatte. Die Augen des ganzen Volkes waren auf die feierliche Scene im Capitol zu Washington gerichtet; es hoffte, wenn auch zweifelnd, auf einen gerechten Spruch zur Warnung Aller, denen ein Amt anvertraut und die, durch das böse Beispiel ihrer Vorgesetzten verleitet, oft nur zu geneigt waren, ihre amtliche Stellung zu mißbrauchen. Zweiundsechszig Senatoren waren anwesend, folglich zweiundvierzig zur Verurtheilung erforderlich. Von diesen Zweiundsechszig erhoben sich fünfundzwanzig, sämmtlich der republikanischen Partei angehörig, und erklärten den Exminister für „Nicht schuldig“, wobei die Meisten zu ihrer Rechtfertigung die Bemerkung hinzufügten, sie gäben diesen Wahrspruch nicht weil sie den Angeklagten für unschuldig hielten – sie seien im Gegentheil von seiner Schuld in ihrem ganzen Umfange überzeugt –, sondern nur weil sie sich überhaupt nicht für competent hielten, ihn zu richten. Carpenter’s Sophistik hatte willige Ohren gefunden. Wie hatten es diese Männer auch wagen dürfen, einen so hochgestellten Parteigenossen dem Zuchthause zu überantworten! So etwas durfte um der Partei willen nimmermehr zugelassen werden. Ob dabei der Gerechtigkeit Gewalt angethan wurde, was kümmerte es diese Menschen, in denen die niedrigste Selbstsucht und die ungezügelte Gier nach Parteiherrschaft längst jedes Rechtsgefühl und jeden Funken von wahrem Patriotismus erstickt hatte!

So endete diese zweimonatliche Farçe mit der völligen Freisprechung Belknap’s, dessen Vorladung vor ein anderes Gericht zu erwarten steht. Die fünfundzwanzig Senatoren, welche sich angesichts des ganzen Volks nicht entblödeten, der hier zu Lande so vielfach verhöhnten Gerechtigkeit einen so frechen Faustschlag in’s Gesicht zu versetzen, stehen zwar vor dem ehrenhafteren Theile des Volkes gebrandmarkt da, wie viele aber der Tonangebenden und Einflußreichen, namentlich in der politischen Gesellschaft, gehören zu denen, die der Wahrheit durch Wort und That die Ehre geben! So wird auch Belknap’s Schuld bald verblassen, und der überführte, aber dennoch freigesprochene Verbrecher, der wenigstens für immer aus der Oeffentlichkeit verschwinden sollte, wird seiner Zeit wieder in den Kreisen glänzen können, in denen er Anstands halber für den Augenblick vielleicht noch nicht zu erscheinen wagt. Heißt es doch, daß er schon begonnen hat, sich an dem gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampfe durch politische Reden zu Gunsten des republikanischen Candidaten Stayes zu betheiligen, aus Dankbarkeit natürlich gegen die Freunde, die ihn vom Zuchthause gerettet. Einer dieser Freunde aber, einer der fünfundzwanzig Senatoren, die Belknap freigesprochen, erklärte kürzlich in einer politischen Versammlung, welcher der Schreiber dieses beiwohnte, daß die Republik seit ihrem Bestehen keine so ehrliche, fleckenlose und glorreiche Regierung gehabt habe, wie die der letzten acht Jahre unter der Präsidentschaft Grant’s und der absoluten Herrschaft der republikanischen Partei. Solche Thatsachen sind charakteristisch für die Zustände, in denen wir leben und unter denen wir leiden. Wo solche Worte gesprochen und von einer großen, intelligenten Versammlung mit donnerndem Beifall aufgenommen werden können, da scheinen Reformen noch in weite Ferne gerückt und wenig Hoffnung auf Besserung vorhanden zu sein. Wer kann es da dem unparteiischen Bürger, dem das Wohl des Landes am Herzen liegt, verdenken, wenn ihm bange um die Zukunft wird?


Noch einmal die Farbenblindheit. Unsere Leser werden sich des Artikels: „Die Farbenblindheit, eine Gefahr für das öffentliche Leben“ in Nr. 4 dieses Jahrgangs, S. 65, erinnern. In Folge desselben sind von verschiedenen Eisenbahndirectionen Untersuchungen über diesen Gegenstand veranlaßt worden und uns mannigfache Berichte über deren Resultate zugegangen. Als eine besonders interessante Illustration zu diesem Thema lassen wir heute nachstehende Mittheilung aus Upsala hier folgen.

Bereits vor einigen Wochen hat Professor Fr. Holmgren im hiesigen physiologischen Laboratorium eine Reihe von Versuchen mit farbenblinden Personen angestellt, die in keiner Beziehung zum Eisenbahndienste standen und deshalb keinerlei Interesse hatten, ihr Gebrechen zu verheimlichen, sondern sich nur aus Eifer für die Sache zur Disposition Holmgren’s stellten. Diese Untersuchungen, deren Resultate den mit normalem Farbensinn Begabten mit Erstaunen erfüllen, wurden in Gegenwart eines höheren Bahnbeamten angestellt, und bei denjenigen am 13. October war unter Anderen auch der Generaldirector Troilius anwesend.

Eine der interessantesten Wahrnehmungen war die, wie es roth- und grünblinde Personen verstehen, die rothe und grüne Farbe auf Eisenbahnflaggen zu unterscheiden. Zuerst wurde z. B. eine grüne Flagge gezeigt. Der zu Untersuchende, um die Farbe derselben gefragt, antwortete wahrheitsgemäß, daß er dieselbe nicht kenne; er rieth z. B. auf „roth“, bei einer vorgezeigten rothen dagegen auf „grün“. Beide Flaggen wurden nun gleichzeitig vorgezeigt und der Name der verschiedenen Farben genannt. So lange das Gedächtniß ihn nicht im Stiche ließ und Gelegenheit zur Vergleichung vorhanden war, konnte der Farbenblinde diese unterscheiden: er hatte sich nämlich gemerkt, daß die „dunkle“ Flagge die grüne, die „helle“ aber die rothe ist. Nach einem auf solche Weise glücklich ausgefallenen Examen würde der Farbenblinde leicht eine Anstellung als Locomotivführer, Conducteur oder Stationsdiener erhalten, aber künftighin soll dies nicht so bleiben. Der Versuch wird wiederholt, nun aber mit einer ausgebleichten grünen und mit einer schmutzigen rothen Flagge; die Unterscheidung von „dunkel“ und „hell“ hilft nichts mehr; der Befund ist der entgegengesetzte: dem Auge des Farbenblinden ist die grüne Flagge jetzt die helle, die rothe die dunkle. Gleiches wurde bei grünen und rothen Lichtsignalen festgestellt; dunkel (bei dieser Probe gleich roth) und hell (gleich grün) kann der Farbenblinde für eine Weile sehr wohl unterscheiden, aber sobald eine Vergleichung beider gegen einander nicht mehr möglich, ist er völlig außer Stande zu unterscheiden, ob ihm im Bahndienste „vorsichtig fahren“ oder „stillgehalten“ signalisirt wird. Genau dasselbe Resultat ergiebt sich hierbei wie bei der Flaggenprobe; eine Laterne mit etwas dünnerem rothem Glase gabt ihm einen helleren, eine solche mit dickerem, schmutzigerem grünem einen „dunkleren“ Schein, und ihnen gegenüber steht er rathlos, weil ihm der Anhaltspunkt zur Beurtheilung der Farben fehlt.

Eine andere Eigenthümlichkeit ist die, daß von zwei Farbenblinden, welche nur auf Grund der Lichtstärke einer Laterne oder einer Flagge die verschiedenen Farben von einander zu trennen vermögen, der eine „hell“ nennt, was dem anderen „dunkel“ erscheint, und umgekehrt.

Auf dem Tische, auf dem viele verschiedenfarbige Wollepartien liegen, begegnen dem Farbenblinden die schwersten und ergötzlichsten Irrthümer. Komisch ist anzusehen, wie der Grünblinde lacht über die Anordnung der Wolleproben seitens des Rothblinden, und wie der Rothblinde in Verwunderung geräth über die Täuschungen des Grünblinden. Aber am interessantesten ist es doch zu sehen, wie auch der hartgesottenste Zweifler an der Existenz der Farbenblindheit zu Kreuze kriecht, wenn er die Ergebnisse dieser Untersuchungen gesehen hat. –

Bei Professor Holmgren’s Untersuchung des Farbensinnes beim Dienstpersonale der Upsala-Gefle-Eisenbahn hat sich ergeben, daß unter zweihundertsechsundsechszig Untersuchten, dem ganzen Betriebspersonale genannter Bahn, nicht weniger als zwölf oder 4,5 Procent in geringerem oder stärkerem Maße farbenblind waren, und zwar: ein Stationsinspector, ein Locomotivführer, zwei Conducteure, ein Bahnmeister, ein Extrabahnmeister, ein Stationsdienervormann, ein Stationsdiener, zwei Bahnwärter, ein Bote und ein Maschinenarbeiter.

Man darf wohl annehmen, daß nach solchen Ergebnissen die Bahnverwaltungen auf das Schleunigste Untersuchungen bezüglich des Farbensinnes ihres Personals anstellen lassen werden; die Fahrgäste haben, zu ihrer Sicherstellung das Recht, dies zu fordern.

Bei der Eisenbahn Fröri-Ludvika wurde neulich vom Betriebschef Taube eine Untersuchung über Farbenblindheit mit dem Dienstpersonale angestellt, welche das überraschende Resultat ergab, daß zehn Procent desselben – sage: jeder zehnte Mann – des normalen Farbensinnes in so hohem Grade ermangelten, daß sie roth, grün und weiß von einander zu unterscheiden außer Stande waren. Sämmtliche haben im Dienste Farbensignalen zu gehorchen.

Als die Farbenblinden behufs nochmaliger Untersuchung dem Arzte überwiesen wurden, wurde das Resultat in allen Fällen bestätigt.

Die Probe wurde auf folgende einfache Weise ausgeführt: zwölf Nachtsignale, abwechselnd roth, grün und weiß, wurden in einer Reihe im Abstande von zweihundert Fuß vom Personale angeordnet; Mann für Mann wurde aufgefordert, die Farben in der Reihenfolge von links nach rechts und umgekehrt zu nennen.

Außer den ganz Farbenblinden fand sich auch ein Theil solcher, welche, obwohl in gewissem Sinne ebenfalls farbenblind, doch die Signalfarben der Bahn zu unterscheiden vermochten.

Die „Eisenbahnzeitung“ theilt weiter mit: „Die Direction der Staatsbahnen hat die Intendanten aufgefordert, die Aufmerksamkeit der Bahnärzte darauf zu richten, daß das Unvermögen, die verschiedenen Grundfarben zu unterscheiden, ein Hinderniß für die Annahme zum Eisenbahndienst abgiebt und daß deshalb bei der Untersuchung von Anstellung Suchenden geprüft werden muß, ob und in wie weit der Suchende an einer solchen Beschränkung des Sehvermögens leidet.“


Franz Ziegler, einer der „Vier in einer Woche“, deren Todtenkreuze wir in Nr. 41 zusammengestellt haben, wird in der „Wage“, dem bekannten „Wochenblatt für Politik und Literatur“ von Guido Weiß, in einem kleinen, aber treffenden Bilde von geschickter Hand nach dem Leben skizzirt. Wir erfahren daraus, daß das von uns angeführte Wort: „Die Disciplin ist die Mutter des Siegs“, das er nicht in der Paulskirche, sondern im Berliner Abgeordnetenhause gesprochen, damals von Waldeck hart angefochten worden sei. Beide Männer erkannten sich jedoch bald ihrem wahren Werthe nach und blieben Freunde bis zum Tode. Ziegler’s zweites Wort: „Das Herz der Demokratie ist da, wo die preußischen Fahnen weh’n“, hat der „altpreußische Demokrat“ in hinreißender Rede 1866 zu Breslau ausgerufen. Seine Rede gegen Mühler gehört dem Jahre 1869 an. Die Lebensskizze in der „Wage“ ist durch die Besprechung von Franz Ziegler’s „Gesammelten Novellen und Briefen aus Italien“ veranlaßt worden, von welchen Fr. Duncker eine neue Auflage in drei Bänden vorbereitet.


Die drei letzten Hausgenossen. (Mit Abbildung S. 743.) Ihr guten Alten, da sitzt Ihr nun in der Einsamkeit des leeren Nestes, in welchem es in den Jahren Eurer Jugend und Kraft so fröhlich wimmelte, bis das junge Volk zu groß und das Nest zu klein wurde und Eines um das Andere, mit Euren Sorgen, Mühen und Opfern flügge geworden, ausflog, um sich selber anzubauen. Wie viel Tausende solcher betagter Elternpaare sitzen einsam, wie Ihr, vor der Thür des einst so lebensvollen Hauses und blicken wehmüthig in die Vergangenheit, aus der ihnen nichts treu geblieben ist, als ein paar Hausthiere, welche einst die Spielgenossen ihrer Kinder waren und nun die der Alten sind. Unser Bild von Walther Shirlaw erfreut ganz besonders durch den wohlthuenden Zug, mit welchem es die stille Zufriedenheit der beiden Alten verräth: wer noch spielt und lächelt, dem ist wohl.



Kleiner Briefkasten.

N. P. in Wz. Allerdings zahlen anständige Uebersetzer ein Honorar für die der „Gartenlaube“ entnommenen Artikel. Sie nicht?



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_748.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)