Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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als den „Fuhrmann Hans Dümeke“ bezeichnete, so hört man in Holstein noch heute die Benennung „Hans Dümken sitt opn Wagen“, und die Wallonen in Belgien geben ihm den Namen „Char-poucet“, das heißt Däumlingswagen.
Wir bitten die Väter, welche ihren Kindern das Märchen am Himmel zeigen wollen, die nähere Erklärung hinzuzufügen, welche schon die alten Griechen den Römern überlieferten, daß nämlich die vier Sterne, welche zusammen ein Viereck bilden, als die vier Räder eines Wagens anzusehen sind, während die drei in gebogener Linie daranstoßenden Sterne drei Zugthiere (Rinder oder Pferde) vorstellen, die, wie es in vielen Ländern z. B. jenseits des Rheins, allgemein Sitte ist, nicht nebeneinander, sondern hintereinander angespannt sind. Genau betrachtend bemerken wir, daß der Wagen rückwärts geht, als wenn er umwenden wollte, und so erklärt sich nun leicht die schiefe Stellung der Deichsel und der drei Zugthiere an derselben. „Wo aber steckt der Fuhrmann, der den Wagen rückwärts lenkt?“ wird wohl bei dieser Erklärung jeder Zuhörer fragen. Wenn wir den mittelsten der drei als Zugthiere gedeuteten Sterne genau betrachten, so werden wir bei leidlich guten Augen sogleich, ganz klar aber mit einem Opernglase dicht über demselben eine zweiten, ganz winzigen Stern erblicken, der also, wie es Fuhrleute thun, auf dem einen Ochsen oder Pferde seines Gespanns gleichsam reitet: das ist das Reiterchen der Araber, der Postillon der Franzosen, der Fuhrmann Hans Dümchen oder Däumling der Deutschen. Sein Auftauchen über dem größern Sterne beim genauern Hinschauen bietet uns für das bloße Auge fast dasselbe Schauspiel, wie die Zerlegung eines sogenannten Doppelsternes durch das Fernrohr. Wie jene in unendlicher Ferne umeinander kreisenden Sonnen des Weltalls dem bloßen Auge stets als einfache Sterne erscheinen und sich erst durch stärkere Fernröhre in zwei, meist complementär (das heißt grün und roth oder orange und blau) gefärbte Sterne trennen lassen, so erscheint dem ersten Blick auf unser Sternbild Zugthier und Reiterchen stets verschmolzen, und die Araber betrachten es als einen Prüfstein guter Augen, beide voneinander getrennt zu erblicken. Bei Anwendung eines gewöhnlichen Opernglases stehen sie bereits fingerbreit voneinander entfernt. Während sich diese beiden Sterne für den Ausblick in das All nur zufällig beinahe decken, weil sie im Raume mit unserer Sonne fast eine gerade Linie bilden, entpuppt sich der Träger des Reiterchens in stärkeren Ferngläsern als ein wirklicher aus zwei umeinander kreisenden Sonnen bestehender Doppelstern, sodaß die Absonderung des Reiterchens nur das Vorspiel einer wirklichen Entzweiung oder Zweitheilung ist.
Aus dieser eigenthümlichen Erscheinung des nur bei völlig dünstefreiem Himmel dem bloßen Auge erkennbaren Reiterchens scheint nun der Volkswitz der Germanen und Slaven jenes reizende Märchen von dem kleinen, schlauen Däumling „geschnitzt“ zu haben, der seinem Vater auf dem Felde vorschlug, ihn in das Ohr des einen Wagenpferdes zu setzen, um von dort unsichtbar das ganze Gespann mit jüh und joh! mit hott und har! zu lenken, wie es in dem Grimm’schen Märchenbuche heißt. Unser Sternbild stellt, wie gesagt, den Augenblick dar, in welchem der unsichtbare Fuhrmann seinen Wagen durch energisches Ziehen und Zupfen mit der Leine rückwärts umlenkt, worin sich ja die Kunst des Fuhrmannes vorzugsweise bewährt, und deshalb heißt der kleine Wagenlenker in Westphalen Zupdümken, und es wird hinzugesetzt, daß er stets um Mitternacht seinen Wagen „torügge zupt“, damit er anderen Tages wieder auf seinem richtigen Platze stehe.
Auch noch andere Züge unseres Märchens stehen offenbar mit den häufigen Verschwinden und Unsichtbarwerden des Reiterchens in Verbindung, so wenn er von seinem Ochsen „aus Versehen“ verschluckt wird, aber immer wieder zum Vorsehen kommt und seine Geschicklichkeit sich zu ducken und durch die engsten Spalten zu schlüpfen zu einer Reihe von Diebeskünsten benutzt. Schenkl hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Däumlings-Streiche von den arkadischen Schäfern dem Hermes in die Schuhe geschoben wurden, der bekanntlich als ganz kleiner Knirps Rinder stahl, sie scheinbar rückwärts gehen ließ, damit die Spuren irre führen sollten, sich durch Schlüssellöcher drückte und endlich, was besonders kennzeichnend ist, der Gefangenschaft durch denselben Originalkniff entwischte, wie Daumesdick bei den Gebrüdern Grimm. Wir haben also hier offenbar ein indogermanisches Sternmärchen vor uns, und die griechische Lesart von den sieben Rindern, die das Hermeskind scheinbar rückwärts davon trieb, malt sich noch in der Deutung der Römer, die das Sternbild auch als sieben auf der Tenne des Himmels im Kreise umgehende und dreschende Rinder (Septem triones) bezeichneten und nach ihnen den ganzen Nordhimmel und die Weltgegend Siebenrind (Septemtrio) tauften.
Unser Däumlings-Gestirn dient auch insofern als Ausgangspunkt für alle ersten Ausflüge in die Sternregionen, als man in der Verlängerung der Verbindungslinie seiner beiden Hinterräder am leichtesten den Polarstern findet, um welchen alle übrigen Gestirne kreisen. Er, der einem ganz ähnlichen Sternbilde wie unser Däumling, dem kleinen Bären oder Wagen als Schwanz- oder Deichselspitze angehört, war natürlich bei Naturvölkern wegen seiner allein festen Stellung in dem scheinbar allgemeinen Wirbeltanz der Sterne ebenfalls der Gegenstand sinnvoller Dichtungen und Mythen. Die alten Indier verehrten in ihm geradezu den Gott Indra, der die Welt erschaffen, und hielten die sechs oder sieben zunächst um ihn kreisenden Sterne für sieben fromme, in seine unmittelbare Betrachtung immerdar versenkte Büßer. Die Chinesen hielten, wie die Griechen, den Polarstern für den Palast ihres höchsten Gottes, für den unbeweglichen Sitz, von dem er das Weltall regiert; die Finnen wollten wenigstens in ihm das Thor erblicken, aus welchem alles Leben in die Welt getreten sei.
Die Abiponen, ein südamerikanisches Volk, haben diesen Wohnplatz und Regierungssitz ihres höchsten Gottes, denn sie zugleich als ihren „Großvater“ verehren, nach Dobritzhoffer in das Siebengestirn verlegt, und sie fürchten, wenn dieser Sternhaufen im Winter von dem südlichen Himmel verschwindet, um an dem unsrigen aufzugehen, daß der Großvater krank geworden sei, und wünschen ihm bei der Rückkehr von seiner Erholungsreise im Frühling Glück zu seiner Genesung. Sie würden eine auffallende Bestätigung ihrer Ueberzeugung, daß dort die Gottheit residire, in den Ansichten der neueren Astronomie finden, die, entgegen dem scheinbaren Mittelpunkte des Polarsternes, in dieser gedrängten Gruppe kleiner Gestirne den wirklichen Mittelpunkt unseres von der Milchstraße umgürteten Sternensystemes sucht. Im Uebrigen spielt auch in dieser Gruppe der eine Stern „Versteckens“ mit dem menschlichen Auge und hat daher, wie der Däumling, entsprechende Märchen hervorgerufen. Einem schwachen Auge erscheint das Siebengestirn wie ein Nebelfleck; ein etwas schärferes erkennt deutlich nur den einen Stern, die Alcyone, inmitten eines Gewimmels kleinerer (woher der Name der „Gluckhenne mit ihren Küchlein“); ein normales Auge unterscheidet sechs, aber nur ein ganz vorzügliches sieben Sterne, weshalb die Griechen das Märchen von den sieben Töchtern (Plejaden) der Pleione erfanden, unter denen sich eine in einen Sterblichen verliebt hätte und deshalb aus Scham vor den Blicken der anderen Menschen gewöhnlich einen Schleier über’s Gesicht ziehe, sodaß nur die übrigen Plejaden sichtbar sind. Durch ein Opernglas betrachtet, vermehrt sich die Zahl dieser kleinen Sterne bereits zu einem ganzen Haufen, der sich, durch ein Fernrohr gesehen, noch beträchtlich an Kopfzahl erweitert.
Aber auch einen wirklichen Nebelfleck vermögen wir in mondlosen Nächten von October bis April mit unbewaffneten Augen am nördlichen Sternenhimmel zu erkennen. Wenn wir die Linie, die uns vom großen Wagen zum Polarstern führte, über denselben hinaus verlängern, so treffen wir diesseits und jenseits der Milchstraße auf eine Anzahl von Sternbildern, die allesammt dem babylonisch-griechischen Märchen von Perseus und Andromeda angehören. Zuerst begegnen wir den königlichen Eltern der Andromeda, Cepheus und Cassiopeja, dann der Königstochter selbst; tiefer am Horizonte steht der Walfisch, das Ungeheuer, welches sie verschlingen wollte, auf der einen Seite Perseus mit dem Medusenhaupte, auf der andern der durch vier ein großes Quadrat bildende Sterne bezeichnete Pegasus, welcher den befreienden Helden herbeigetragen.
Indessen wir wollen in diesem alten Märchenbuche nicht weiter blättern, sondern unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf den mit Hülfe einer Sternkarte leicht auffindbaren Nebelfleck am Gürtel der Andromeda richten. Er ist von den Tausenden der später mit Fernrohren gefundenen Nebelflecke des nördlichen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_523.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)