Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1875) 871.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

sondern haben es Jemand – entwendet. Wahrscheinlich ist nicht Fräulein B. die Diebin, sondern Sie …“

Jedes meiner Worte traf die Französin wie ein Keulenschlag; sie fiel auf einen Stuhl und krümmte und wand sich, wie in großen Schmerzen, dabei ausrufend: „Oh non, non, ick ’aben nichts – oh mon dieu, mon dieu, sauvez-moi, retten mick, retten mick!“

Ich war jetzt vollständig überzeugt, daß nur sie die Diebin war, glaubte sogar, daß sie das Geld noch bei sich führte, zumal mir der sie begleitende Beamte zugeflüstert, daß sie unterwegs in ein Haus getreten sei, vorgeblich um ein Band fester zu schürzen. So ließ ich sie denn ohne Säumen, trotz ihres hysterischen Schluchzens, von G. zur Untersuchung abführen, und nach Verlauf einer halben Stunde brachte mir derselbe triumphirend den gezeichneten Fünfundzwanzigthalerschein der Frau von S., welchen die Französin im Strumpf bei sich versteckt hatte; das alte Original flüsterte mir mit schmunzelndem Lächeln zu: „Von die hat de Müller’n noch jenug Schererei schabt, Herr Comm’ssar. Det scheint mich ’ne ‚Feine‘ zu sein.“

Somit war die Französin vollständig des Diebstahls überführt, den sie denn auch offen eingestand. Sie sagte zu ihrer Entschuldigung, daß sie durch die fortgesetzten beträchtlichen Unterstützungen an ihren verschwenderischen, doch glühend von ihr geliebten Vetter in Genf fast vollständig von allen Mitteln entblößt und auf den wahnsinnigen Gedanken gekommen sei, sich durch einen Griff in die Casse der Oberin zu helfen, welche That ihr dadurch erleichtert sei, daß die Dame einige Male größere Summen im Portemonnaie bei sich geführt.

Ehe die Französin zur Haft gebracht wurde, machte sie den Versuch, Fräulein B. um Verzeihung zu bitten; doch diese wies sie mit den Worten ernst von sich: „Ich werde mich bemühen, Sie und die bitteren Stunden, die Sie mir bereitet, zu vergessen.“ Die Augen mit den Händen bedeckend, verließ die R., vollständig gebrochen, das Zimmer.

Wer aber nahm von der unschuldigen Margot das beschämende Gefühl, für eine Diebin gegolten zu haben? Wer entschädigte sie für die Qualen, die sie gelitten? Wer löschte die bittere Erinnerung aus ihrem jungen Herzen: „Du hast eine Nacht im Gefängniß gesessen“? Niemand.

Während der letzten Vorgänge war die Oberin von S. angelangt, welche, durch die Verhaftung ihrer Lehrerin sehr erschreckt, in großer Aufregung deren Entfernung zur Haft beiwohnte. Die alte Dame war ganz außer sich über das Geschehene, schalt sich selbst ob ihres falschen Verdachtes und bat Fräulein B. herzlich um Vergebung. Das tief gekränkte Mädchen vermochte indessen nicht viel zu sprechen und sagte nur mit sanfter Stimme:

„Ich zürne Ihnen nicht, Frau Oberin. Sie konnten nicht anders handeln. In der Ferne werde ich das Erlebte vergessen lernen.“

„So leben Sie wohl!“ erwiderte Frau von S., ihr die Hand reichend, „und verzeihen Sie mir, wenn Sie können! Der Schein trügt ja so oft. Habe ich doch auch noch die traurige Erfahrung gemacht, von derjenigen betrogen zu sein, der ich mein ganzes Vertrauen schenkte.“

Margot lächelte schwach mit stummen Lippen, und die alte Dame empfahl sich still und betrübt.

An der Thüröffnung aber erschien jetzt eine hohe, kräftige Männergestalt und begrüßte die Angeklagte mit den Worten: „Meine arme unschuldige Margot!“ Sie stürzte sich laut schluchzend in die Arme, die sich ihr entgegenstreckten. Ich aber wußte nun, welche Macht die geschlagenen Wunden heilen werde – die der Liebe.

Es war eine stille, heilige Minute für die drei Menschen. Ich alter Knabe, der ich in den langen Jahren einer düstern Thätigkeit doch bereits den ergreifendsten und haarsträubendsten Scenen beigewohnt hatte und daher nicht leicht zu rühren bin, mußte eine Thräne im Auge zerdrücken, als ich das arme bleiche Mädchenbild anschaute.

Die guten Menschen beeilten sich, mir für die Freundlichkeit gegen die unschuldig Angeklagte zu danken, und kehrten dem traurigen Orte den Rücken, um draußen in der Freiheit aufzuathmen.

Als mein alter G. die Leute hinausgeleitet hatte; steckte er noch einmal seinen weißen Kopf durch die Thürspalte und sagte: „Ja, ja, Herr Comm’ssar, so kann Eener sich noch uff seine ollen Dage irren. Wie der Schein oft trügt! Nu jammert mir det junge Ding, dat des so unschuldig ’ne Nacht in solch olles Ratzenloch hat zubringen müssen. Aber den andern schwarzäugigen Satan wollen wir det schonst besorjen. Na, der Herr Staatsanwalt fackelt ja nich … sonst mit die muß sich Eener in Acht nehmen, denn det scheint mich, wie jesagt, ’ne ‚Feine‘ zu sind. – Na, weiter befehlen der Herr Comm’ssar woll für’n Ogenblick nichts?!“ – –

Unter den täglich wechselnden neuen Ereignissen kam mir das kleine Erlebniß mit der schönen Margot bald aus dem Sinne, und ich wurde erst wieder lebhaft daran erinnert, als mir am ersten Tage des neuen Jahres ein zierliches Briefchen mit dem Poststempel „Genf“ überbracht wurde, in welchem mir die vormalige Angeklagte nochmals ihren Dank aussprach und mir zugleich mittheilte, daß sie nach ihrer Entlassung sofort zu ihren Eltern gereist, wohin ihr der Bräutigam nach kurzer Frist gefolgt sei, nachdem er in Berlin seine Verbindlichkeiten gelöst habe. – Weiter las ich, daß der erste Weihnachtstag sie zur glücklichen Frau gemacht und sie sich jetzt auf dem Wege nach London befinde, woselbst ihr Gatte eine glänzende Stellung erhalten habe.

So prophezeite ich damals richtig, daß die Liebe der Balsam für Margot’s Wunden sein werde.

Die beklagenswerthe Französin büßte ihren Leichtsinn durch eine neunmonatliche Haft; sie fühlt ihr Unglück noch viel härter, seit sie weiß, daß der verschwenderische Vetter, für den sie zur Verbrecherin wurde, mit der leichtfertigen Frau eines reichen Banquiers aus Genf entflohen ist und sich nach Amerika eingeschifft hat, nachdem er sich in einem Briefe gänzlich von der früheren Geliebten losgesagt.

A. H.




Friedliche Kreuzfahrer.
Von Schmidt-Weißenfels.

Bekannt ist die starke Neigung des schwäbischen Volksstammes zum Pietismus. Neben der Landeskirche bildet er eine sehr zahlreiche Gemeinschaft in Württemberg, und aus ihm heraus hat sich eine Anzahl eigener Secten gestaltet, deren Anhänger über das ganze Land und darüber hinaus verbreitet sind. Als vor nunmehr vierzig Jahren durch David Strauß’ Kritik des Lebens Jesu eine tiefgreifende Bewegung in der gebildeten und religiösen Welt hervorgerufen worden, wurde namentlich auch der württembergische Pietismus davon in Mitleidenschaft gezogen. War doch Strauß selber ein Württemberger, und ging seine die Wunder der Bibel verwerfende Lehre doch von der württembergischen Hochschule über die Christenheit! Ein Zetergeschrei erhob sich gegen den Verwegenen, eine neue Erregung kam in die pietistischen Kreise, und mit erhöhtem Eifer suchte man in ihnen nach einer befriedigenden Gestaltung eines glaubenskräftigen Lebens.

Es war damals, daß in Ludwigsburg, der Geburtsstadt von Strauß, ein Mann auftrat, welcher mit Begeisterung sich die Erneuerung der erlahmten pietistischen Partei als Aufgabe seines Wirkens stellte. Dieser Agitator hieß Christoph Hoffmann und war der Sohn des Gründers der nahe bei Ludwigsburg gelegenen pietistischen Gemeinde Kornthal. Mit zwei Gesinnungsgenossen, Beide Namens Paulus, gab er zunächst seit 1845 ein Wochenblatt „Die süddeutsche Warte“ heraus, welches den aufgeweckteren Theil der Pietisten und Kirchlichgesinnten sammeln und organisiren sollte. Wie bedeutend der Anhang und das Ansehen dieses Mannes in der Bürgerschaft war, zeigte sich im Jahre 1848, als die Wahlen zum deutschen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_871.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)