Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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beinahe zehn Uhr Abends. Nach Tisch stand mir noch eine schwere Aufgabe bevor. Die anderen Herren hatten mich ersucht, die Eltern des Verstorbenen von dem Unglücksfalle zu benachrichtigen, da ich der unmittelbare Zeuge desselben gewesen – aber wie sollte und konnte ich den beklagenswerthen Eltern eine so entsetzliche Nachricht mit Schonung und doch der Wahrheit getreu mittheilen? Zehnmal begann ich, zehnmal zerriß ich das angefangene Schreiben: es mußte indeß zu Ende gebracht werden, da den Armen der furchtbare Schmerz doch nicht zu ersparen war. Am Tage nach dem Unglücksfalle sollte die Section der Leiche und tags darauf die Beerdigung stattfinden. Während der Section traf ein naher Bekannter des Verstorbenen, aus Neapel kommend, in Pompeji ein, der von uns über das Ereigniß benachrichtigt worden war.
Er wollte nun das Arrangement des Begräbnisses übernehmen und fuhr noch an demselben Tage nach Neapel zurück, um mit dem deutschen Consul das Weitere zu besprechen und vielleicht eine Translocirung der Leiche nach dem Protestantenkirchhofe Neapels zu erwirken. Leider gelang ihm Letzteres nicht, wie ich erst in Neapel, wohin ich mich am nächsten Tage zu begeben gezwungen war, erfuhr. Mochte Anstrengung und Aufregung mich zu mächtig ergriffen, mochte das Klima sein Theil dazu beigetragen haben, genug, ich fühlte mich in der Nacht nach dem traurigen Tage so krank, daß ich, um einen Arzt zu consultiren, nach Neapel zurückfuhr. Ich hatte mir das in jener Gegend von Zeit zu Zeit herrschende Sumpffieber, welches unter dem Namen „Malaria“ bekannt und gefürchtet ist, zugezogen. Luftveränderung und richtige Behandlung ließen das Fieber bald verschwinden, und ich konnte, obgleich noch schwach, meine Reise nach Rom antreten.
Als ich Neapel verließ, war es Nacht, in Italien die günstigste Zeit zum Reisen. Das Sternenzelt spannte sich klar über uns, der Vesuv setzte sich mit dem dahinterliegenden Monte Somma tiefschwarz in scharfen Contouren am Firmament ab, und der glühend angehauchte Rauch stieg kerzengerade empor. So hatte dieser Koloß wieder ein Menschenleben gefordert. Nicht genug, daß er Pompeji, Herculanum und Stabiae begrub, nicht genug, daß er Hunderte, Tausende von Menschenleben in alter und neuer Zeit verschlang – noch immer verlangt er seinen Tribut und hat noch nicht das letzte Opfer gefordert.
Wo stecken die Edelmetallschätze? Wo befinden sich die ungeheuren Reichthümer, von denen die Geschichte erzählt und über die wir schon als Schulkinder gestaunt haben? Wo sind die Goldkammern von Krösus und Salomo, von Cyrus und Sesostris? Was ist aus dem Hort geworden, den Schah Nadir dem Großmogul von Indien einst abnahm? Und wo stecken all’ die Massen Silbers und Goldes, welche aus Flüssen gewaschen und aus Bergwerken gewonnen worden sind? Ueber den Verbleib all’ dieser Schätze sind wir ganz und gar im Unklaren. Zwar können wir vermuthen, daß ein großer Theil davon vergraben und vergessen wurde, ein anderer mit untergegangenen Schiffen auf dem schweigsamen Meeresgrunde liegt; doch diese Vermuthungen genügen nicht, um das Verschwinden der zahlreichen Milliarden, welche früher von Menschen besessen wurden, zu erklären. Wahrscheinlich dürfte das Räthsel niemals gelöst werden; es ist keine Aussicht vorhanden, daß die Welt jemals einen verläßlichen Bericht erhalte über den gegenwärtigen Aufenthalt des vermißten Edelmetalles. Auch wissen wir nicht einmal, wieviel wir verloren haben; allerdings können wir es schätzen, aber ohne Anhaltungspunkte für die Richtigkeit oder Falschheit unserer Muthmaßungen.
In der Regel sind, wo es sich um seltsame Statistiken handelt, Engländer diejenigen, die sich damit abgeben; ein Engländer berechnete die Zahl der Haare auf den Menschenköpfen, ein anderer die Zahl der Worte der Bibel, etc. Diesmal jedoch haben wir es ausnahmsweise mit einem Russen zu thun. Es ist ein Herr Tarassenko Otreschkoff, der sich in einem curiosen Buche („Gold und Silber“) unter Anderem die Aufgabe stellt, die Eingangs aufgestellten Fragen zu beantworten und Alles ziffermäßig zu belegen – „beweisen“ kann man nicht recht sagen, denn beweisen läßt sich da schwerlich etwas. Der Curiosität halber mögen einige Daten aus diesen Untersuchungen hier einen Platz finden. Mittelst umfangreicher Berechnungen wird behauptet, daß der Werth sämmtlichen Edelmetalles, welches die Welt von der Erbauung des babylonischen Thurmes an bis zur Entdeckung Amerikas, also bis zum Jahre 1492, besaß, sich auf sechsunddreißig Milliarden Mark (gleich achtzehnhundert Millionen Pfund Sterling) belaufen habe. Es würde uns wenig nützen, hieran zu glauben oder es zu leugnen, denn wir haben weder für das Eine noch für das Andere Argumente. Da bisher eben nur diese eine Berechnung existirt, so müssen wir uns an sie halten.
Was die Zeit nach Columbus betrifft, so hat sie uns mit nahezu doppelt so viel Schätzen an Gold und Silber beglückt, als die Zeit vor diesem Entdecker der neuen Welt, der eigentlichen Goldwelt. Darüber ist kein starker Zweifel zulässig, hat doch sogar der vor zwei Jahren abgehaltene Brüsseler Münzkongreß angenommen, das Gold und Silber, welches seit dem letzten Decennium des fünfzehnten Jahrhunderts in den Besitz von Erdbewohnern gekommen sei, wäre etwa vierundsechszig Milliarden Mark werth. Somit hätten wir eine Summe von hundert Milliarden Mark während der Zeit von der Sündfluth bis zur Enthüllung des Hermann-Denkmals. Wo finden wir nun diese hundert Milliarden?
Gegenwärtig besitzen Europa und Nordamerika nicht mehr Edelmetall als für sechsunddreißig Milliarden Mark (zwanzig Milliarden in Gold, sechszehn in Silber). Auf Südamerika, Australien und die civilisirten europäischen Colonien mögen etwa vier Milliarden kommen. In der christlichen Welt befinden sich also beiläufig vierzig Milliarden. Davon dürften dreizehn Milliarden in Münze factisch circuliren – „darüber sind die Gelehrten ziemlich einig“. Weitere zwanzig Milliarden, also die Hälfte, figuriren als Schmuck, Geschirr und Baumaterial. Wenn wir diese Ziffern acceptiren, so bleibt uns nichts übrig, als von den fehlenden sieben Milliarden anzunehmen, sie seien verborgen. Der jährliche Verlust durch Abnutzung, Schiffbruch und andere Unfälle wird auf anderthalb Procent des umlaufenden Geldes geschätzt; die Abfälle von brachliegendem und von in den Gewerben angewendetem Edelmetall werden auf ein Procent taxirt. Demgemäß entsteht jedes Jahr ein Abgang von dreihundertundzwanzig Millionen Mark. Dagegen aber beträgt die Neugewinnung von Gold und Silber jährlich achthundert Millionen. Hiervon müssen – nach Mac Culloch – außer diesen dreihundertundzwanzig Millionen für Abnützung etc. noch zweihundert Millionen für Vermehrung der Umlaufsmittel und zweihundertundvierzig Millionen für den gewerblichen Gebrauch bestritten werden.
Viel schwieriger ist es, mit den übrigen, in den nichtchristlichen Ländern vorhandenen sechszig Milliarden fertig zu werden. Wohl weiß man, daß davon der größte Theil, besonders viel in Silber, seinen Weg nach Asien genommen, doch ist es schier unmöglich, über die Art der Verwendung Auskunft zu erhalten. Ein Nationalökonom hat sich dahin ausgesprochen, daß in Indien jetzt acht Milliarden in Münzen und Putzsachen zu finden sind. Von 1852 bis 1857 – also blos in sechs Jahren – sollen allein in Vorderindien und China zwei Milliarden in Silber vergraben worden sein. Auch von den ungeheueren Summen, die seit den Phöniciern bis heute nach Arabien gebracht wurden, hat sehr wenig wieder das Land verlassen. Wenn man sogar annimmt, daß von den sechszig Milliarden zwanzig in verschiedenen Gestalten im Umlauf und Gebrauch sind, so bleiben denn doch noch vierzig ohne Paß, und es resultirt hieraus, daß – wie groß auch immer die Verluste durch Unfälle etc. sein mögen – erstaunliche Quantitäten auf eine oder die andere Weise versteckt worden sind.
Abgelehnt. Meine Bitte an die Frauen, den Lebensversicherungen gegenüber Aberglauben und Vorurtheil schwinden zu lassen (Nr. 41 der Gartenlaube) hat einen lebhaften Wiederhall gefunden, wie mannigfache Zuschriften beweisen. Unter diesen befindet sich ein Brief einer Frau, der von so tiefem Gemüthsleben und feinem Verständniß der Schreiberin Zeugniß giebt, daß ich ihn an dieser Stelle am liebsten wortgetreu mittheilen möchte, wenn die mir Unbekannte sich nicht nachdrücklich dagegen verwahrte. Immerhin aber glaube ich in ihrem Sinne zu handeln wenn ich den Gegenstand, welchen sie berührt, einer kurzen Besprechung unterziehe. Gelingt es mir, damit nur einigen Gemüthern Beruhigung zu verschaffen, so bin ich reichlich belohnt, und die Unbekannte wird mir gewiß aus diesem Grunde meine Indiscretion verzeihen. Die Dame schreibt:
„Beeinflussen Sie, geehrter Herr – und allen Directoren von Lebensversicherungsgesellschaften möchte ich es zurufen – beeinflussen Sie Ihre Agenten, darauf hinzuwirken, daß die Frauen wenn nur irgend möglich, ganz aus dem Spiele bleiben, bis der Antrag angenommen, die Versicherung feststeht. Es ist besser, die Frau erfährt vorher nichts davon, weil die Möglichkeit einer auf ärztliches Gutachten gestützten Abweisung vorliegt. Sie werden mir entgegnen können, daß eine solche Abweisung, Gott sei Dank, höchst selten eintrete, aber gerade deshalb wiegt dieselbe um so schwerer für die Betroffenen, am schwersten wohl für die Frau, die ihren Gatten aufrichtig liebt und in der Verweigerung der Aufnahme eine sichere Bürgschaft dafür erhält, daß unter Vielen gerade ihr Gatte nach ärztlichem Dafürhalten der Wahrscheinlichkeit eines früheren Todes unterliegt. Wenn nun die Hoffnung zu einer Wunderblume für den Erdenwanderer wird, so gestaltet sich jene unbestimmte Furcht zu einer Giftpflanze, die vernichtend wirkt etc.“ –
Die Lebensversicherungsgesellschaften, nach den bisherigen, verhältnißmäßig immer noch geringen Erfahrungen in Dingen, welche die Medicinalstatistik vielleicht erst nach hundertjährigen Beobachtungen endgültig feststellen wird, sind in ihrem heutigen Zuschnitte in Bezug auf Berechnung ihrer Prämientarife darauf angewiesen, Versicherungsanträge, welche nicht nach jeder Richtung hin als absolut ungefährdete erscheinen, zurückweisen zu müssen. Es ist daher für den Leiter einer Lebensversicherungsanstalt die oberste Aufgabe, bei der Aufnahme neuer Anträge überaus vorsichtig zu Werke zu gehen. Hätte man es auf der Welt nur mit aufrichtigen,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_843.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)