Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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mich allein zurückzulassen. Sie sind in dem Wahne gegangen, daß die ungewöhnliche Anstrengung der Nacht mich zu sehr ermüdet habe, und jetzt bin ich allein mit meinem ungestüm pochenden Herzen und suche es, wie so oft schon, durch Niederschreiben des Erlebten zu beruhigen.
Wir fuhren in die Erlöserkirche, bekanntlich eine der prachtvollsten und größten der ganzen Stadt. Das Innere des mächtigen Gebäudes strahlte in feenhafter Beleuchtung. Der Glanz Tausender und aber Tausender von Lichtflammen warf seine funkelnden Reflexe auf die Ornamente, Säulen und Mosaiks, die man nirgends so prachtvoll sieht, wie in Rußland. Der Kaukasus und Ural liefern zu diesem Schmucke der Kirchen ihre mannigfach gefärbten Steinarten, vom glänzend tiefblauen Lapis-Lazuli bis hinab zum sanft grünen Malachit und schneeweißen oder in den verschiedensten Nüancen geäderten Marmor. Wie strahlten im Glanze der Lichter die von Gold, Edelsteinen und Perlen starrenden Heiligenbilder, die man an solch einem hohen Festtage möglichst überdeckt mit all’ den Schätzen an edeln Metallen und Steinen, die in den russischen Kirchen aufgehäuft sind, wie fast an keinem Orte der Welt!
Der Priester tritt in reich geschmückten, glänzenden Festgewändern mit seinen Gehülfen hinter dem Vorhange, der das Allerheiligste verdeckt, hervor und zwischen die hohen, zu beiden Seiten aufgestellten Leuchter mit den riesigen Wachskerzen, er erhebt die Hand zum Segen über die nach Tausenden zählende Versammlung. Feierliche, erwartungsvolle Stille! Fast der Hauch des Athems ist hörbar, bis langsam um Mitternacht die Uhr ihre zwölf Schläge hören läßt. Augenblicklich fällt das Geläute sämmtlicher Glocken ein, wozu die Riesenglocke des Kreml das Signal giebt, und im vollen, vielstimmigen Chore braust der Oster-Hymnus durch das Gotteshaus. Bei dem orthodox-griechischen Cultus fehlt alle Musik, selbst die Orgel, und es ist daher der Kirchengesang zu einer so wunderbaren Vollkommenheit ausgebildet worden, daß Alle, die ihn nicht gehört haben, sich schwerlich einen Begriff davon machen können. Mich riß er vollständig hin. Ich vergaß, wo ich war, vergaß, daß ich, die Tochter eines fernen Landes, einer anderen Religion, hier unter Fremden stand. Mit den Uebrigen niederknieend, das Haupt geneigt, glaubte ich den Chor der lobpreisenden Engel zu vernehmen, den jubelnden Lobgesang, der über die Welt dahinrauscht, allen Seelen das hohe Wunder zu verkündigen, welches zu ihrem Heile geschehen ist.
Bis zwei Uhr dauerte der wunderbare nächtliche Gottesdienst. Unmittelbar nachdem der Geistliche den letzten Segen gesprochen, wandte er sich glückwünschend zu dem nächsten seiner andächtigen Zuhörer, dem er das Osterei reichte, und seinem Beispiele folgten in der kommenden Minute sämmtliche Anwesende.
„Christ ist erstanden,“ tönt es von Mund zu Mund, und Niemand, die Damen nicht ausgenommen, darf auf das Erschallen dieses Festgrußes die Wange zum Kusse weigern. Von Hand zu Hand gehen die vielfach verzierten, bunt bemalten Ostereier. Die Zeit der Todesruhe, der Enthaltsamkeit, der andächtigen Beschaulichkeit ist wie mit einem Schlage vorüber. Der Festmorgen ist angebrochen, und jetzt gilt es, für die lange streng beobachteten Fasten sich in jeder Weise schadlos zu halten. Man muß an diese grellen Contraste gewöhnt sein, um sich hineinzufinden. In meiner Seele zitterten noch die Weiheklänge der Osterbotschaft zu lebhaft nach, als daß ich von dem plötzlich mich umgebenden Festtrubel nicht hätte verletzend berührt werden sollen. Ich sehnte mich fort, doch ein prüfender Blick auf das endlose Gedränge belehrte mich, daß an Erfüllung meines Wunsches noch nicht zu denken sei.
Mit einem Gefühle ängstlicher Beklommenheit sah ich mich gezwungen, von Minute zu Minute in landesüblicher Weise Glückwünsche zu empfangen und zu erwidern. Um mich dieser mir peinlichen Sitte möglichst zu entziehen, ließ ich wie verloren meinen Blick über das Gewühl hingleiten, als plötzlich – unwillkürlich umklammerte ich mit der Hand Frau Bamberger’s Arm, die sich erschrocken zu mir hinwendete.
„Was ist Ihnen nur, meine Liebe?“ fragte sie ängstlich. „Sie sehen zum Erschrecken blaß aus. Die schwüle Luft betäubt Sie.“
Ich neigte zustimmend den Kopf. Um nichts in der Welt hätte ich sie den wahren Grund meiner augenblicklichen Fassungslosigkeit ahnen, hätte ich sie entdecken lassen mögen, was mich innerlich bewegte.
Ich hatte ihn gesehen – Hirschfeldt. Schön und lebensfrisch, wie in seinen besten Tagen, stand er in einer Gruppe von Damen und Herren, mit denen er sich lebhaft unterhielt, als unsere Blicke sich plötzlich begegneten und er wie verwirrt das Gespräch abbrach. Das war nur eine Secunde – dann war vor meinen Augen Alles wie ein Traumbild verschwunden.
Willenlos ließ ich mich von Frau Bamberger weiterführen, indem ich nur versuchte, sie mit leisen Worten zu beruhigen, ihr zu sagen, daß mir bereits wieder wohl sei. Um keinen Preis durften wir Aufsehen erregen. Sie war übrigens durchaus nicht verwundert; ohnmächtige Damen sind bei der Osterfeier, in der von Weihrauch schweren Luft, keine ungewöhnliche Erscheinung. So weit ich im Grunde von einer solchen Schwachnervigkeit entfernt bin, ließ ich diesmal den Verdacht ruhig über mich ergehen, und es bewirkte wenigstens das Gute, daß meine freundliche Beschützerin energisch strebte, mit mir aus dem Gewühl in’s Freie und nach Hause zu gelangen.
Ich fühlte mich unendlich erleichtert, als wir, wieder daheim gekommen, noch einige Stunden der Ruhe vor uns hatten. Wenn auch keinen Schlaf, so fand ich doch jetzt, von allem Zwang befreit, hinreichend Zeit, ohne Störung über das Erlebte nachzudenken.
„Er ist hier; er ist vollkommen wohlauf, aber er hat keinen Augenblick gefunden, um sich nach mir zu erkundigen“ – das ist der Grundgedanke, der sich mir aus allen anderen mit beißender Schärfe immer wieder herausschält, und er hat mich während der bitteren Stunden dieses Morgens von allen Zweifeln, von ich weiß nicht welchen widersinnigen Hoffnungen, die ich halb unbewußt vielleicht doch noch in einem Winkel meines Herzens nährte, geheilt. Der Brief an meinen Bruder liegt vollendet vor mir; in einigen Wochen werde ich bei ihm sein und in der deutschen Heimath hoffentlich den verlorenen Seelenfrieden wiederfinden. Ich will – –
Ja, was wollte ich doch? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, daß, als meine Feder das Wort niedergeschrieben hatte, ich durch einen anmeldenden Diener unterbrochen wurde, der, bei mir eintretend, einen Namen aussprach, welcher in dem Augenblick, da ich ihn vernahm, so lähmend auf mich wirkte, daß ich nicht die Kraft zu irgend welcher Erwiderung fand. Ich winkte nur zustimmend mit der Hand, und zwei Minuten darauf stand der Träger jenes Namens auf der Schwelle des Empfangzimmers mir gegenüber.
Blühend, frisch, mit einem strahlenden Lächeln und doch ein wenig unsicher näherte er sich und streckte mir die Hand entgegen. Ich drückte die meinige fest an mich, denn die zwei Minuten hatten genügt, mir meine Besinnung zurück zu geben und meinen Stolz zu wecken. „Es freut mich, Herr Hirschfeldt,“ sagte ich in dem Tone, mit dem man wohl einen guten Bekannten empfangt, „hier in Moskau wieder mit Ihnen zusammen zu treffen.“
Er wich zurück, in seinen Augen eine erschrockene Frage.
„Ich glaubte,“ fuhr ich unverändert fort, „Sie mit meinen Gedanken weit eher in Petersburg suchen zu müssen.“
„Ich bin auch dort gewesen,“ erwiderte er langsam und halb zerstreut, wie ein Mensch, der, wesentlich von anderen Gedanken in Anspruch genommen, sich erst auf das besinnen muß, was er sagen will.
„Und jetzt? Aber bitte, möchten Sie nicht zuvor Platz nehmen? Werden Sie jetzt längere Zeit hier in Moskau bleiben?“
Er schob den Sessel, auf den ich hingedeutet hatte, mit hastigem Rucke bei Seite und stand im nächsten Augenblick nahe vor mir, bleich, rasch athmend. „Helene,“ fragte er und sah mich unbeschreiblich traurig an, „Fräulein Helene, warum sprechen Sie zu mir wie zu einem alltäglichen Bekannten, der einmal so ganz zufällig Ihren Weg gekreuzt hat? Blieb mir denn nicht das Versprechen Ihrer Freundschaft wenigstens?“
Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, ihm mit äußerlich bewahrter Ruhe und durchaus in dem vorhin angeschlagenen Tone zu erwidern. „Es kann wohl nicht Ihr Ernst sein, sich
auf eine Freundschaft zu berufen, die während der verflossenen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_763.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)