Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)
Alle diese letzten Tage waren für mich schwer zu ertragen, aber der gestrige doch am schwersten, weil ich mich gern still zurückgezogen und nichts mehr von dieser wunderlichen Welt, in der ich lebe, gehört oder gesehen hätte. Wie Vieles mußte ich statt dessen erfahren!
Gleich nach dem Diner kam Hirschfeldt, um die bewußte Symphonie mit mir zu üben. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, machte aber doch meine Sache schlecht. Man ließ uns keinen Augenblick allein. Madame geruhte in höchst eigener Person in den Musiksaal zu kommen und sich von dem Capellmeister ihre Lieblingsmelodien vortragen zu lassen. Als er selbst ihren capriciösesten Anforderungen mit spielender Leichtigkeit und sichtbarem Vergnügen genügte, als die perlenden Töne so sicher unter den Fingern ihres Beherrschers hervorquollen, während seine Augen lebhaft strahlten – da fühlte ich mich klein neben ihm. Ein widerwärtiges, mir sonst fremdes Gefühl bemächtigte sich meiner und verkümmerte mir den Genuß an der Musik. Es mißfiel mir entschieden, wenn ich sah, wie Madame Branikow sich wohlgefällig Herrn Hirschfeldt’s Aufmerksamkeiten gefallen ließ, und doch hatte ich kein Recht, sie ihr zu mißgönnen. Was bin ich ihm und wie durfte ich mir anmaßen, über sein Benehmen irgend welchen Aerger zu empfinden?
Als er sich verabschiedete, fand er nur einen Augenblick Zeit, um mir zuzuflüstern: „Von Allem, was ich Ihnen heute sagen wollte, habe ich kein Wort anbringen können; aber ich tröste mich, denn Sie wissen schon genug, und hoffentlich sehe ich Sie schon in den nächsten Tagen wieder.“
Er ging, und Olga, die soeben im Saale erschienen war, sandte ihm einen langen Blick nach, über dessen Bedeutung ich bis jetzt nicht recht zur Klarheit gelangt bin. Mangel an Interesse lag jedenfalls nicht darin. Für den Rest dieses unglücklichen Abends schien die Gouvernante sich den jungen Musiker zum Gegenstande der Unterhaltung auserlesen zu haben. Es ist ihr nunmehr gelungen, glücklich herauszubringen, daß er und der von den Adrianoff’s verbannte Lehrer eine und dieselbe Persönlichkeit sind, und sie trug alle darüber umlaufenden Klatschgeschichten nebst vielen anderen mit ihrer ganzen Beredsamkeit beim Thee vor. Es waren noch mehrere Damen anwesend, und ich mußte Zeuge sein, wie darüber debattirt und gestritten wurde, ob an der Geschichte von Wéra und Hirschfeldt etwas Wahres sei oder nicht.
Madame, die bequem an ihrem gewohnten Platz auf der Chaiselongue ruhte und sich damit beschäftigte, aus einem neben ihr stehenden silbernen Körbchen ein Stück Biscuit nach dem andern hervorzunehmen und zu verzehren, erklärte endlich mit Gemüthsruhe, daß sie den Musiker charmant finde, daß er spiele wie ein Gott, und daß er, nach ihrem Dafürhalten, zuviel Verstand besitze, um sich auf eine Tollheit einzulassen, die ihm nothwendigerweise eines Tages den Hals brechen müsse.
„Dem,“ sagte unser Gebieter und strich seinen Schnurrbart, „ist jede Tollheit zuzutrauen, und wenn ich Constantin Feodorowitsch wäre, würde ich meine schöne Schwester sorgfältiger hüten und dem Abenteurer, der sie in’s Gerede gebracht hat, lieber eine Kugel vor den Kopf schießen, als daß ich ihm erlaubte, überhaupt noch ein Wort an sie zu richten.“
Zenaïde Petrowna lachte, daß man alle ihre weißen Zähne sah. Sie meinte, es würde eine schwere Aufgabe sein, Wéra zu hüten, wenn es dieser eben nicht gefiele, sich bewachen zu lassen; übrigens finde sie die Geschichte äußerst amüsant.
Ich stand im Geheimen alle Qualen der armen Seelen im Fegefeuer aus und durfte mir doch keine Blöße geben; ich hielt mit furchtbarer Anstrengung das gleichgültigste Lächeln auf meinen Mienen fest, ertrug das Kreuzfeuer von Olga Nikolajewna’s spähenden Blicken, ohne mit den Wimpern zu zucken, und dankte Gott aus tiefstem Herzen, als der Abend sein Ende erreicht hatte.
Mit welchen gemischten Gefühlen ich unter diesen Verhältnissen dem Donnerstag entgegen sehe, ist leicht begreiflich.
Unser Musikabend hat gestern stattgefunden. Er war zahlreicher besucht als der vorige, und Madame schwelgte in Wohlbehagen, denn Jedermann sagte ihr Verbindliches über die Anordnung dieser hübschen Soiréen. Ihre Chaiselongue war stets umringt, und sie sah sich angenehm unterhalten, ohne daß es der geringsten Anstrengung ihrerseits bedurft hätte.
Der Capellmeister kam diesmal früh. Im Bewußtsein alles Dessen, was in meiner Gegenwart über ihn geredet war, klopfte mir das Herz in heftiger Unruhe, als ich ihn erblickte.
Er sah düster aus – „préoccupé“ würde Zenaïde Petrowna gesagt haben, wenn sie ihn genauer betrachtet hätte. Ich verstand den unruhig suchenden Blick, den er über die Versammlung gleiten ließ, denn von den Adrianoff’s war noch Niemand da. Er und ich, wir sollten gleich zum Anfang unsere Symphonie vierhändig spielen, und vor Beginn derselben
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_645.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)