Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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Schwester ein durchaus angenehmes Mädchen kennen, das mir gleich nach unserer Ankunft erklärte, mich keinenfalls fortzulassen, bis ich Kaffee mit ihnen getrunken habe. Ich versuchte dankend abzulehnen – da trat der Capellmeister zu uns.
„Sie werden bleiben, nicht wahr?“ sagte er und sah mich mit seinen wunderbaren Augen an, daß mir ganz warm um’s Herz wurde. „Wir wollen einen rechten, echten gemüthlichen Berliner Kaffeeklatsch halten.“
Wo waren jetzt deine guten, in schwerem Kampfe dir abgerungenen Vorsätze, Helene? Ich blieb. Ich blieb zwei ganze Stunden und fühlte mich zum ersten Mal, seit ich auf russischer Erde bin, so recht gemüthlich. Wir plauderten immer in deutscher Sprache, über alles Mögliche, über das, was wir schon erreicht im Leben oder noch zu erreichen hofften, und Herr Hirschfeldt und ich gaben einander das Versprechen uns stets als gute Collegen zu behandeln, das heißt, aufrichtig, ohne uns je Complimente zu sagen, Einer den Andern fördernd, wo es sich thun läßt.
Die Mutter, obgleich sie von unserer Unterhaltung nichts verstehen konnte, litt es doch nicht, daß wir uns der französischen oder gar der russischen Sprache, in der ich noch sehr Anfängerin bin, bedienten, weil sie begriff, welche Freude mir die heimischen Laute bereiteten. Der klare, kluge Blick ihrer dunkeln Augen, die der Sohn von ihr geerbt hat, ruhte trotzdem mit wohlwollender Theilnahme auf uns. Sie kam mir vor wie eine jener Patriarchinnen aus der alten Zeit, die ruhig im Gefühle ihrer Würde den Familiengliedern gestattet, in ihrer Weise sich zu erfreuen und zu unterhalten, da sie doch stets ihrer Ehrfurcht einflößenden Stellung sicher ist und weiß, Alle sind bereit, auf einen Wink von ihr sich aufhorchend und ehrerbietig um sie zu versammeln.
Leider ging im Verlaufe dieser Stunden mein Herz vollständig verloren. Ich kämpfte nicht mehr. Ich überließ mich willenlos dem Strome, der mich fortriß, und erwarte jetzt mit verzehrender Ungeduld den Donnerstag Abend, mitunter auch mit Herzklopfen und einer tüchtigen Portion Angst, denn ich war doch nur ein Jahr am Conservatorium, um mich, weit entfernt von Künstlerideen, zur tüchtigen Lehrerin in der Musik auszubilden. Herr Hirschfeldt dagegen brachte volle drei Jahre daselbst zu, hat seinen Cursus beendet und ist Künstler und Componist. Wie werde ich mit meinem Spiel vor ihm bestehen? Ich denke zitternd daran.
Mitunter kommt es über mich, wie das Gefühl eines unaussprechlichen, überwältigenden Glückes, und dann wieder gleich einem Zustande schwerer Betäubung, in welchem mir erschreckend klar wird, daß eine fremde, mir bisher unbekannte Gewalt unwiderstehlich in mein Leben einzugreifen droht, daß sie mein ganzes Sein zu einem verzweifelten Kampfe herausfordert, von dem ich noch nicht einmal ahne, ob ich siegreich daraus hervorzugehen im Stande bin.
Gestern war der halb ersehnte, halb gefürchtete Musikabend. Da stehen die Buchstaben schwarz und unbeweglich vor mir, und Niemand ahnt, welch schweres Gewicht für mich in den wenigen Worten liegt. Noch weiß ich nicht, wie ich es ertragen werde, und immer wieder muß ich mich selber fragen, ob es denn möglich ist. Warum doch mir dieses Schicksal? Mein Leben gestaltete sich wahrlich ohnehin nicht allzu rosig, da es mir auferlegt ward, in der Fremde mich mühsam durchzukämpfen. Doch ich will versuchen ohne unnütze Reflexionen einfach die Thatsachen zu berichten.
Der Donnerstag Abend kam, doch mit ihm, da außerdem mehrere große Gesellschaften in Woronesch stattfanden, nur wenige Gäste, aber unter ihnen die Generalin Adrianoff mit ihrem Sohne und ihrer Wéra. Letztere hatte ich in der Woche einige Male kurze Zeit am dritten Orte gesehen und sie immer gleich reizend und liebenswürdig gefunden. So kam sie mir auch gestern entgegen.
Sie trug diesmal ein Kleid von schwarzer Seide und dabei kostbare Korallenschnüre im blonden Haare. Sie sah entzückend aus und spielte sehr gut zwei Sätze aus einem Trio von Reissiger, und dann trug ich zwei aus dem großen Trio von Mendelssohn vor. Es war mein Glück, daß ich nicht bemerkte, wie währenddessen Hirschfeldt leise eingetreten war. Dienstpflichten hatten ihn verhindert, früher zu kommen, und in dem Augenblicke, als ich, vom Instrumente aufstehend, ihn gewahrte, hatte ich eine Empfindung, als ob plötzlich ein Lichtmeer den ganzen Saal überfluthe. Ich fühlte, daß ich erröthete, als er zu mir kam und mir einige anerkennende Worte über mein Spiel sagte, und dann erschrak ich, als er die Ouverture zu „Elisa“ von Cherubini zu vier Händen auf das Instrument stellte und sagte. „Wir werden sie zusammen spielen.“
Ich hatte das Bewußtsein, einmal um’s andere blaß und roth zu werden, obgleich es mir im Ganzen an der Fähigkeit nicht fehlt, auch bei größter innerer Aufregung meine äußere Ruhe wohl zu bewahren „Ich kann nicht. Die Ouvertüre ist mir zu schwer,“ stieß ich hastig hervor.
Einige Secunden lang sahen mich die schwarzen Augen in fragender Verwunderung an. „Ich habe Sie soeben spielen hören und weiß, daß sie Ihnen nicht zu schwer ist,“ gab ihr Besitzer mir zurück.
„So versuchen wir es.“
Jede andere Empfindung trat in dem Augenblicke in mir zurück vor der Nothwendigkeit, Herr meiner selbst zu bleiben. Was mußte er von mir denken? „Ich will,“ sagte ich mir selber, und nahm den verlassenen Platz wieder ein. Bebend glitten zuerst meine Finger über die Tasten, dann aber, und zwar wunderbar schnell, riß die Sicherheit des Capellmeisters mich mit sich fort. Es ging wie von selber, und ich fühlte mich durch und durch getragen von freudigem Wohlbehagen. Bei der letzten Note nickte mein Begleiter mir zu, als wolle er sagen: „Sehen Sie, daß es ging.“
„Ich würde es nie für möglich halten,“ fuhr er dann, gleichsam den unausgesprochenen Gedanken ergänzend, fort, „daß Sie aus irgend einem Grunde sich sperren oder zieren könnten.“
Er stand auf, während ich noch vor dem Flügel sitzen blieb, nahm das Notenheft, aus dem wir eben gespielt, blätterte darin und richtete verschiedene Bemerkungen über die Composition an mich. Plötzlich sagte er, in dem anscheinend gleichgültigen Conversationstone fortfahrend, aber leiser und auf deutsch: „Sind Sie verschwiegen, Fräulein Helene?“
„Gewiß, das ist eine Eigenschaft, die mir selbst meine Feinde lassen müssen,“ antwortete ich, ohne noch zu begreifen, warum es mich bei des jungen Musikers Worten wie Schreck ergriff.
„Wenn Sie wollen,“ fuhr er fort, „werden Sie zwei Freunde in Woronesch haben.“
„Wen denn?“
„Fräulein Wéra und mich.“
„Ah, und wie das? Wie muß ich es anfangen, Ihr Beider Freundschaft zu gewinnen?“
Er sah mich an, so fragend und so durchdringend, daß es mich wie ein Schauer überlief. „Wissen Sie nicht, welch ein Drama hier spielt?“ fragte er. „Ich möchte in den nächsten Tagen kommen, um die Symphonie von Schumann vierhändig mit Ihnen zu üben. Dann hoffe ich, Sie allein zu sehen und Ihnen Alles zu erzählen, jetzt kann ich es nicht, denn man bemerkt uns. Bitte, kommen Sie mit mir!“
Er führte mich, die ich in einer Art von ahnender Betäubung an seiner Seite schritt, zu Fräulein Adrianoff. Wir fanden sie, den Kopf in die weiße Hand gestützt, nachsinnend und aufhorchend, wie sie wahrscheinlich unserm Vortrage gefolgt war, allein auf einem Eckdivane sitzend.
Der Capellmeister begrüßte sie ehrerbietig und sagte ihr in französischer Sprache: „Hier stelle ich Ihnen Fräulein Helene vor – eine Künstlerin!“
Ich fuhr auf und wollte mich gegen die Bezeichnung „eine Künstlerin“ verwahren, aber er fügte rasch und deutsch hinzu. „Lassen Sie sich von Fräulein Wéra erklären, wie ich das Wort verstehe!“ Dabei verbeugte er sich, als habe er irgend eine gesellschaftliche Phrase ausgesprochen, und verließ uns. Wenige Minuten später sah ich ihn bereits auf einem Tabouret neben unserer Gebieterin sitzen und so angelegentlich mit dieser plaudern, als sei er mit seiner ganzen Seele nur bei ihr.
Wéra hatte unterdeß meine Hand genommen und drückte sie mit einer Innigkeit, die meine Aufmerksamkeit ausschließlich wieder auf sie hinlenkte. Wahrheit, Aufklärung um jeden Preis,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_630.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)