Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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sind, die Physiologen und Psychologen unserer Zeit mehr angezogen als in Verwunderung gesetzt haben, da sie eine Reihe von Schlüssen, welche man längst gezogen hat, einfach bestätigen; allein ein Umstand mußte auch sie in das höchste Erstaunen versetzen. Es ist derjenige, daß der Automatmensch als solcher ein moralisch ganz verschiedener Mensch von demjenigen seiner gesunden Tage ist, daß er also in Wirklichkeit zwei Leben lebt. Sonst die Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit in Person erscheint er während seiner Zufälle wie ausgewechselt. Sobald er gegen irgend eine Person anstößt, ist sein erster Griff auf deren Uhr und Börse gerichtet, die er sodann in seine Tasche steckt. Ohne Gegenwehr läßt er sich die angeeigneten Gegenstände darauf wieder abnehmen, weil er von dem Geplündertwerden noch viel weniger etwas bemerkt, als von dem Selbstplündern. Er beträgt sich, mit einem Worte, wie eine von den höchsten Graden des Diebswahnsinns heimgesuchte Person, während er in gesunden Tagen der rechtlichste Mensch von der Welt ist.
So nachdenklich aber auch für den Moralphilosophen die Thatsache sein mag, daß Jemandem mit seinem Empfindungsvermögen und Bewußtsein auch das Gewissen schwinden kann, ein ungleich tieferes Interesse, als an seinen moralischen, knüpft sich an den physischen Zustand des Automatmenschen, sodaß sich die Blicke der berühmtesten Physiologen Europas auf diese phänomenale Erscheinung gerichtet haben. Der Anknüpfungspunkt dieses Interesses ist die Erfahrung, daß man mit Hülfe einiger wenig schmerzenden Schnitte Thiere alsbald in einen Zustand versetzen kann, der mit demjenigen des Automatmenschen die größte Aehnlichkeit darbietet. Ich will nur einen der vielen Versuche erwähnen, welche der Prof. F. Goltz in Straßburg vor fünf oder sechs Jahren an Fröschen angestellt hat. Mittelst einiger sehr schnell und ohne die geringste Gefahr für das Leben des Thieres heilender Schnitte wußte dieser Forscher die Verbindung zwischen dem Vordergehirn der Frösche und den übrigen Centralorganen des Nervensystems aufzuheben, um dadurch Versuchsthiere herzustellen, die, wenn sie regelmäßig gefüttert werden, sich viele Monate, ja selbst Jahre lang des besten Wohlseins erfreuen, obwohl sie nichts sind, als lebendige Maschinen, Automatthiere, wie der am Gehirn verletzte Sergeant des Antoniusspitals. Für derartig behandelte Thiere scheint die Außenwelt gar nicht zu existiren; sie hocken unbeweglich auf derselben Stelle, bis man sie anstößt; sie verschlingen nur, was man ihnen in den Mund steckt, würden aber wie Tauben, die man ihres Vordergehirns beraubt hat, auf einem Berge von Lebensmitteln verhungern. Dagegen ist auch bei ihnen das Hautgefühl das einzige Bindemittel mit der Außenwelt. Wenn der Versuchsfrosch ein Männchen ist und man streicht seinen Rücken sanft mit dem Finger, so quakt er mit dem Ausdrucke der größten Behaglichkeit und wiederholt dieses maschinenmäßige Quaken so oft, wie die Berührung wiederholt wird. Noch mehr, wenn man auf einen Fuß eines solchen Thieres einen Tropfen ätzender Flüssigkeit bringt, so benutzt es den andern Fuß, die Reizursache zu entfernen, ja, es weiß sich auf einer hin- und hergeneigten Kante mit der Geschicklichkeit eines Seiltänzers im Gleichgewicht zu erhalten, ohne daß es irgend ein Bewußtsein von dem Geschehenden haben kann. Man wird an das angebliche Balanciren der Nachtwandler erinnert.
Nach dem Vorgange des großen französischen Philosophen Descartes, der im siebenzehnten Jahrhunderte zuerst den jetzt jedem Schulknaben geläufigen Satz begründete, daß das Gehirn das Denkorgan des Menschen ist, nennt man jene ohne Bewußtsein und Wollen eintretenden zweckmäßigen Bewegungen des thierischen Körpers Rückstrahlungs- oder Reflexbewegungen. Derartige unwillkürliche Bewegungen beobachtet man nun in größter Auswahl auch am menschlichen Körper. Wir brauchen nicht an die Fälle zu erinnern, bei denen durch Krankheiten die Verbindungen zwischen Gehirn und Rückenmark zerstört worden waren, sodaß die betreffenden Personen des Gefühls in ihren Füßen vollkommen beraubt sind, gleichwohl aber mit denselben unbewußt die heftigsten Bewegungen ausführen, wenn man sie an der Fußsohle kitzelt, denn schon der gesunde Menschenkörper bietet entsprechende Erscheiungen in Masse. „Wenn unser bester Freund,“ sagte Descartes, „von dem wir gewiß wissen, daß er uns niemals mit der Faust in’s Auge schlagen wird, so thut, als wollte er es thun, werden wir trotz der größten Anstrengungen nicht im Stande sein, im Augenblicke des Schlages die Augen offen zu behalten, der Mechanismus des Körpers ist also sogar stärker als der Wille. Es zeigt sich, daß wir ebenso wenig die durch einen Reiz auf die Schleimhäute hervorgebrachte Nöthigung zum Husten, Aufstoßen, Niesen etc. willkürlich unterdrücken können, kaum daß wir im Stande sind, dem doch ausschließlich von innen kommenden Bedürfnisse zu lachen oder laut aufzuschreien zeitweise zu widerstehen. Gänzlich dem Bereiche unseres Bewußtseins und Willens entzogen sind die Bewegungen des Athmens, des Herzschlages, der Verdauungsorgane etc., die mit maschinenartiger Regelmäßigkeit vor sich gehen – ein Räderwerk, das sich nur gegenseitig zu bedingen scheint, aber ganz unabhängig von demjenigen ist, was wir Denken, Bewußtsein, Seele nennen. Der Urheber der neueren Philosophie schloß darum mit der Consequenz, die seinem System eigen ist, weiter: Die Thiere sind also nichts, als sehr wohlgebaute Maschinen.
Die frömmsten Leute der Zeit haben diesen Ausspruch des Meisters, ohne an die bedenklichen Folgeschlüsse zu denken, angenommen. Der große Leibnitz war einer seiner vertrauensseligsten Verfechter und der mehr als strenggläubige Jesuitenpater Malebranche sein begeisterter Prophet. Auch der große englische Zoologe Huxley, einer der hervorragendsten Naturforscher unserer Zeit, hat sich, anknüpfend an den Pariser Automatmenschen, auf der vorjährigen Naturforscher-Versammlung in Belfort ziemlich unzweideutig zu Gunsten dieser rein mechanischen Auffassung des Lebens erklärt. Wir brauchen unsern Lesern nicht zu sagen, daß diese Auffassung heute von einer großen Anzahl von Naturforschern bis zu den letzten Folgeschlüssen vertheidigt wird, das heißt bis zu dem Schlusse, daß der Mensch, auch in dieser Beziehung, nichts vor den Thieren voraus hat.
Der Erste welcher diesen Schluß in unerschrockener Weise gezogen und offen verkündet hat, war der vielgeschmähete französische Arzt und Philosoph La Mettrie, welchen Friedrich der Große an seinen Hof zog und so hoch achtete, daß er ihm nach seinem frühen Tode eine selbstverfaßte Gedächtnißrede in der Akademie, deren Mitglied er gewesen, widmete. Dieser geistreiche Arzt hatte aus seinen Beobachtungen am und im Krankenbette die feste Ueberzeugung gewonnen, daß die Aufstellung des Descartes auch auf den Menschen Anwendung finde, und legte diese Ansicht in einem kleinen lebendig geschrieben Buche „L’homme machine“ (der Mensch eine Maschine) nieder. Er machte die Ansicht des Descartes und Leibnitz, daß der thierische Körper einer Uhr mit unendlichen Rädern und Federn zu vergleichen sei, welche durch die Speisung immer neu aufgezogen und im Gange erhalten werde, zu seiner eigenen und meinte, daß sich in dieser Beziehung der menschliche Körper zu dem thierischen nicht anders verhalte, wie eine astronomische Normaluhr zu einer Schwarzwälder, oder wie ein Automat von Vaucanson zu den beweglichen Figuren einer Drehorgel. Obwohl er dabei nichts gethan, als die geheimen Ueberzeugungen älterer Philosophen auszusprechen und diejenigen einer großen Majorität in der Nachwelt vorweg zu nehmen, heftete sich der Haß der theils von seinem Spott gereizten, theils in ihrer Rechtgläubigkeit gestörten Zeitgenossen an seinen Namen, und man hat nichts gespart, um das Andenken dieses ersten Propheten der neueren Materialistenschule zu verunglimpfen. Selbst die französischen Encyclopädisten, welche nur mit andern Worten dasselbe predigten, stimmten in das allgemeine Verdammungsurtheil ein. Sein Tod, der in Folge reichlichen Genusses von einer wahrscheinlich verdorbenen Trüffelpastete an der Tafel des französischen Gesandten in Berlin erfolgte, gab einen willkommenen Anlaß, den lebenslustigen, aber in seinem Wandel vorwurfsfreien Mann als ein Nonplusultra von Schwelgerei, Sittenlosigkeit, Irreligiosität und Schlechtigkeit hinzustellen. Das Aufsehen, welches der Pariser Automatmensch in den Gelehrtenkreisen unserer Zeit hervorgerufen, scheint nicht ohne Einfluß geblieben zu sein auf das Andenken des Freundes Friedrichs des Großen, der zuerst den Menschen für einen Automaten erklärt hat, denn nicht nur die bezügliche kleine Schrift ist in den letzten Jahren in neuen Ausgaben und Uebersetzungen erschienen, auch das Charakterbild La Mettrie’s ist durch französische und deutsche Gelehrte von den entstellenden Flecken gereinigt worden. Im Schooße der Berliner Akademie hat dem arggeschmäheten Philosophen kürzlich Dubois-Reymond eine sympathische Gedächtnißrede gewidmet.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 605. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_605.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2022)