Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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Sängerin eines Tages aus Kassel verschwunden. In Paris tauchte sie wieder auf. Nachdem sie bei Cordoni fleißig italienischen Gesang studirt hatte, nahm sie ein Engagement als erste Sängerin bei der italienischen Oper in Paris an. Die Franzosen waren entzückt von der schönen deutschen Sängerin mit dem schier unaussprechlichen Namen „Aenevettère“. Im Salon der kunstgebildeten Gräfin Merlin lernte sie Maria Malibran und alle Kunstgrößen von Paris kennen. Nach zwei Jahren kehrte sie nach Deutschland zurück und gastirte in Berlin und Wien und an allen größeren Bühnen. Eine Kunstreise führte sie nach Italien. Sie trat an der berühmten Scala in Mailand auf. So traf ich die liebenswürdige Künstlerin auf einer neuen Gastreise in Prag wieder. Sie wollte kein festes Engagement wieder annehmen. Mama Heinefetter aber erzählte uns mit überströmenden Augen, wie gut Sabine gegen ihre Familie sei. Schon von ihrer ersten kleinen Gage an habe sie aufopfernd für Mutter und Geschwister gesorgt, ihre Schwester Clara zur Sängerin ausbilden lassen und bei ihren eigenen Gastspielen in der Kunstwelt schnell bekannt gemacht. Und bald solle die junge Kathinka mit einer Ehrendame auf Sabinens Kosten die hohe und theure Schule in Paris durchmachen.
Sabine Heinefetter hatte ihr Gastspiel in Prag fast vollendet, als ich anlangte. Ich sah sie nach dem Romeo nur noch als herrlichen Tancred. Wir verlebten sehr frohmüthige Tage mit einander in der so interessanten alten Königsstadt an der Moldau und benutzten jede freie Stunde, ihre reichen historischen Reliquien und Kunstschätze mit einander zu beschauen. Kathinka schwirrte als enfant terrible nebenher und zeigte stets mehr Sinn dafür, sich vom fröhlichen Leben bewundert zu sehen, als hundertjährigen verwitterten Todtenstaub zu bewundern.
Mir wird der sonnige Maientag unvergeßlich sein, als wir die engen unsauberen Gassen der tausendjährigen Prager Judenstadt durchschritten, uns durchdrängend durch wahre Barricaden von alten mottenumschwirrten Kleidern und zerrissenen Stiefeln, längst verstummten Uhren, verrostetem Eisenkram, erblindeten Spiegeln, arm- und kopflosen Porcellanpüppchen, gekitteten Theetöpfen, verschimmelten Oelbildern längst verwehter namenloser Schönheiten und wahrhaft nervenaufregend von allen Seiten umzetert und gezerrt von schmutzigen Schacherhänden und den hunderttönigen unnachahmlichen Nasallauten: „Handeln! Handeln! Kupte, kupte laczinve! Kauft, kauft wohlfeil!“
Und dann betraten wir durch ein enges Pförtchen den „guten Ort“, „das Haus des Lebens“, ein ummauertes grünes Fleckchen Erde, in der seit Olim’s Zeiten die Juden von Prag ihre Todten begraben haben. Der Staub von Tausenden, Tausenden ruht hier, längst wieder vereint mit der mütterlichen Erde. Kein Grab ist ausgegraben, durchwühlt, kein Gebein verworfen. Unter neu aufgeschütteter Erde versanken die alten Gräber. Von vielen Leichensteinen ragen nur die Spitzen noch hervor. Kreuz und quer, hoch und niedrig, halbumgesunken stehen viel hundert altersgraue Steine mit verwitterten hebräischen Inschriften da, von grünem Moose überzogen. Gleich rechts, am Eingange vom „Hause des Lebens“, ragt viel höher als alle übrigen ein Riesengrab auf. Kein Stein, kein Name dabei. Es ist das Grab von viel tausend neugeborenen Kindlein und – von Millionen heißen Mutterthränen. Und das Grab von Jahrhunderten ist über allen Menschenstaub und alle Menschenschmerzen gewachsen, und ein Wald von wilden Hollunderbäumen beschattet die Gräber. Im Grase blühten leuchtende und duftende Frühlingsblumen, und in dem reichbelaubten blüthenknospenden Hollunder fingen sich Sonnenstrahlen und sangen Amseln. Es war wunderschön und gar friedlich auf dem alten Judenkirchhofe zu Prag.
Der alte weißbärtige Synagogendiener, der uns umherführte, erzählte mit seiner weichen melancholischen Stimme von den Gräbern: „Hier unter diesem versunkenen Steine, auf dem zwei Hände abgebildet sind, deren Daumen sich berühren – das Grabzeichen für einen Rabbiner – liegt der vor dreihundert Jahren in Prag hochberühmte Rebb Löb, der so eingedrungen war in die Geheimnisse chaldäischer Folianten und der Kabbala, wie vor ihm kein Anderer. Als Chacham – Heiliger – durfte er in seinem Hause keine Gattin, keine Schwester, keine Dienerin haben. Da schuf er sich mit Zauberkunst aus Lehm einen Diener, den furchtbaren Golem. Dem legte er unter die Zunge einen Streifen Pergament, auf dem der Name Jehovah’s stand, den sonst kein Jude schreiben darf, und der Golem erhob sich und lebte und that bei dem Rabbi alle Dienste. Nur am Sabbath durfte der Golem nicht arbeiten, also auch nicht leben. Darum nahm ihm Rebb Löb jede Freitag-Nacht, ehe der Sabbath begann, das Wort Jehovah aus dem Munde, und der Golem wurde sogleich wieder eine leblose Thonpuppe. Nur einmal vergaß der Rabbi, den Zauber von seiner Creatur zu nehmen. Er ging Freitag-Nacht in die Synagoge, in der Stunde, da der Sabbath nahte. Und wie er vor der ganzen Gemeinde das Gebet hielt, hörte er draußen ein furchtbares Getöse – das war der entfesselte Golem. Nicht mehr der gehorsame Knecht, sondern der zerstörende Dämon, der Alles vernichtete, was ihm in den Weg trat, der die Synagoge, die ganze Judenstadt, ganz Prag zerstören würde, wenn es nicht gelänge, den Zauber zu brechen. Und in höchster Angst stürzte Rebb Löb in seinen Rabbigewändern aus der Synagoge, dem thönernen, zähnefletschenden Ungethüm entgegen, und er beschwor Golem mit den stärksten Zaubersprüchen der Kabbala – und wie der Dämon auch heulte und wüthete und sich wand, endlich gelang es dem Chacham doch, ihm das Pergament mit dem Namen Gottes unter der Zunge zu entwinden, und der Golem sank machtlos, leblos zu Boden, eine thönerne Puppe. Rebb Löb aber hat die Creatur seines Kabbala-Wissens, das die geheimnißvollsten Kräfte der Natur beherrschte, nie wieder in’s Leben zurückgerufen.“
Wunderbar war die Zauberkraft von Rebb Löb’s Augen. Wen er mit diesem durchdringenden Flammenblick ansah, der mußte ihm die geheimsten Gedanken und Sünden enthüllen. Wunderbar war seine Gabe, aus eitel Dunst farbenreiche Gemälde, lebensvolle Menschenerscheinungen, auch von längst Verstorbenen hervorzuzaubern.
Der phantastische Kaiser Rudolph der Zweite, der sich lieber mit Alchemie und Astrologie, mit dem Suchen nach dem Stein der Weisen und anderen Zauberspielereien beschäftigte, als mit seiner Regierung, die in den feinen Händen der Jesuiten ruhte, hatte diesen einst das Wort gegeben: die armen Juden aus seinem Lande zu vertreiben und mit dem Prager Ghetto den Anfang zu machen. Alle Juden zittern, nur Rebb Löb tritt in seiner feierlichen Rabbitracht dem Kaiser kühn in den Weg, da er mit schäumenden Rossen vom Hradschin in die Stadt hinab fährt. Mit ausgebreiteten Armen und wallenden Locken steht der Rabbi in seinen langen feierlichen Gewänden da, wie ein Prophet des alten Bundes, und auf sein weithin dröhnendes „Halt!“ stehen die feurigen Pferde zitternd da, wie Lämmer. Aber das Volk ruft. „Steinigt ihn, den verdammten Juden, der es wagt, unserem Kaiser den Weg zu versperren!“ – und Koth und Steine umsausen den Rabbi, doch wie sie ihn berühren, sind es duftende Kirschen- und Aepfelblüthen. Und Rebb Löb spricht zum staunenden Kaiser: „Beim Gott meiner Väter! Ich sage Dir, Du wirst noch heute das Gebot zurücknehmen, das uns Juden aus Deinem Lande vertreiben soll, und mein Volk wird drinn wohnen, bis die Moldau den Hradschin hinauffließt.“ Und noch ehe die Sonne unterging, nahm Kaiser Rudolf den Befehl zurück, die Juden zu vertreiben. Dann trat er in das Haus Rebb Löb’s, und der Wundermann zeigte ihm im engen dunklen Zimmer den gewaltiger Hradschin und die seinen Fuß umspülende Moldau, zuletzt die wunderschöne Königin Libussa auf silberglänzendem Roß, in den goldenen Locken die Eichenkrone …
Jahrhunderte sind über den Staub Rebb Löb’s auf dem alten Prager Judenkirchhofe dahingerauscht, und die Welt ist eine andere geworden. Sie sagt mit spöttischem Lachen: Der gute Rebb Löb war schon vor dreihundert Jahren ein geschickter Taschenspieler und Mechaniker. Er besaß einen vorzüglichen Automaten, den Golem, und eine herrliche Laterna Magica. Aber unter den duftenden Hollunderbäumen und hundertjährigen Leichensteinen im „Hause des Lebens“ thut Einem solch spöttisches Wort gar weh.
Noch länger aber standen wir vor einem andern versunkenen Grabsteine. Darauf war kaum noch eine weibliche Figur zu erkennen, die in der Hand eine Rose trug, – das rührende Zeichen, daß hier der Staub einer Jungfrau ruht, die als Braut gestorben. Auf dem Grabsteine lagen viele kleine Steine. Unser
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_483.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)