Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
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der Schilderung dieser bangen Nacht übergehe, sei mir zu besserem Verständnisse meines Abenteuers ein Wort über die Natur der Moore überhaupt gestattet.
Die Moore Nordwestdeutschlands, welche von der Meeresküste bis fünfundzwanzig Meilen landeinwärts auftreten, finden sich theils als längere schmale Uebergänge vom Geestlande zu den Marschen, theils dringen sie als weite Tieflandsbuchten in den Landrücken ein, wie die ausgedehnten Moore in Ostfriesland, Oldenburg und im Herzogthum Bremen, häufig aber bilden sie auch weite, durch höher gelegene Landrücken eingeschlossene und im Laufe der Jahrhunderte mit Torfmasse ausgefüllte Thalmulden.
Das „Königsmoor“ zählt, seiner äußeren Gestaltung nach, zu den Mooren letztgenannter Art. Gegenüber dem oft scharf ausgeprägten Charakter anderer Moore weist dasselbe innerhalb seiner Grenzen fast alle verschiedenen Formen und Uebergänge auf, die man unter dem Begriffe „Moor“ vereinigt. Wo das Moor sich im Laufe der Zeit über das Niveau des stehenden Wassers empor gehoben, da sind die eigentlichen Torfbildner – Algen, Torfmoose, Myriophyllen, Schilfrohre, Sumpfgräser und andere Wasserpflanzen – abgestorben. Das Moor ist ein fertiges, todtes geworden und unsere beiden nordischen Haide-Arten, die Strauchhaide (Calluna vulgaris L.) und die Glockenhaide (Erica tetralix L.) haben das Terrain völlig für sich erobert und geben diesen Strichen den Charakter des Hochmoors. Den Uebergang zu den feuchteren Stellen bezeichnet das Verschwinden der erstgenannten Haide-Art und das Auftreten des deutschen Gagels (Myrica Gale L.) und der Rosmarinhaide (Andromeda polifolia L.). Die niedrigst gelegenen Strecken zeigen die oben genannten eigentlichen Torfbildner mehr oder weniger noch in voller Thätigkeit und bedingen diejenige Stufe der Moorbildung, welche man mit den Namen Unterwasser-, Grün- und Sumpfmoore bezeichnet. Hier tritt das braune Moorwasser überall zu Tage, besonders in den Abzugscanälen und den zur Torfgewinnung gemachten Einschnitten der Torfgräber, welche allein oft an die Nähe der Menschen erinnern. Auch finden sich bereits vor Jahrzehnten verlassene Torfgruben, in welchen der Torfbildungsproceß auf’s Neue begonnen hat und welche sich in Folge dessen mit einer dünnen trügerischen Pflanzendecke überzogen haben, deren Betreten meistens ein rettungsloses Versinken in dem oft unergründlichen Schlamme zur Folge haben würde. – Die Fauna des Moores ist diejenige der anstoßenden Haide, nur ärmlicher, als diese. Die höher gelegenen Stellen werden auch als Weidetriften für die Haideschnucken nutzbar gemacht.
Und nun zu meinem Jugenderlebniß!
An einem schönen Julimorgen des Jahres 1867 traf ich mit der Post von Harburg in Tostedt ein, von welchem Orte aus ich noch an demselben Tage das im Südosten des Königsmoores gelegene Kirchdorf F…, meine Heimath, zu erreichen gedachte. Da sich in Tostedt keine Fahrgelegenheit darbot, so war ich genöthigt, die Strecke von etwa drei Wegstunden zu Fuße zurückzulegen.
Unter Gelegenheitsbesuchen bei Freunden und Bekannten, deren ich in Tostedt verschiedene besaß, war mir der Tag rasch dahingeschwunden und die Sonne bereits dem Untergange nahe, als ich den freundlichen Ort verließ, und durch den „Düwelshöpen“, das Schützenholz der Tostedter, den Weg zum Moore einschlug, obschon man mir gerathen, die Nacht im Orte zu bleiben, oder wenigstens doch auf dem gebahnteren Wege das Moor zu umgehen. Ich befolgte diesen Rath nicht, weil ich dann einen Umweg von mehr als zwei Stunden hätte machen müssen. Schon als Kind war ich zu verschiedenen Malen über das Moor gekommen, und ich glaubte, mir damals die Merkmale des einsamen Weges zur Genüge eingeprägt zu haben.
Bei einbrechender Dunkelheit hatte ich bereits die Oste – hier noch ein winziges Bächlein – überschritten und befand mich auf den Otterer Bergen, einem etwa hundert bis hundertfünfzig Fuß hohen Hügelzuge, welcher ein Stück Wasserscheide zwischen Oste und Wümme, im weiteren Sinne zwischen Elbe und Weser bildet. Ich schaute über die Wümme und ihre schmale Wieseneinfassung hinweg, und vor mir lag das weite düstere Moor. Jener dunkle, noch eben zu erkennende Streif im Süden desselben kündete mir die Heimath an. Nach weiterer, kurzer Wanderung gelangte ich an die Wümme. Schläfrig wälzten sich ihre trüben braunen Wasser durch die Wiesen, die ein leichter Nebel deckte, in welchem die verkrüppelten Erlen und Bruchweiden geisterhaft zu schweben schienen. Nur wenige Schritte noch, und ich stand auf dem Moore.
Vor mir lag die öde kahle Fläche, die ich durchwandern mußte; der dunkle, graue Streif am südlichen Horizonte, der mir vorhin noch das Ziel meiner Wanderung anzeigte, war verschwunden; die untergegangene Sonne hatte ihn meinen Blicken entzogen.
Rüstig schritt ich vorwärts. Ob auch der Mond von Wolken verdeckt war, so konnte ich doch, nachdem sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt, recht gut eine Strecke des vor nur liegenden Weges erkennen. Ringsum herrschte eine Todtenstille, die nur durch das Knistern des Haidegestrüpps unter meinen Füßen und dann und wann durch den melancholischen Ruf des Regenpfeifers oder des Kibitzes unterbrochen wurde.
Allmählich beschlich mich ein leises Gefühl der Aengstlichkeit und Besorgniß. Wie leicht konnte ich den wüsten, kaum sichtbaren Weg verfehlen! Ich schaute hinter mich; noch glaubte ich deutlich die Wümme mit ihrer Einfassung und die dahinterliegende Hügelkette zu erkennen; noch konnte ich umkehren. Doch nein! Unmuthig über die Schwäche, die mich anwandelte, verfolgte ich den einmal gewählten Weg. Mancherlei selten benutzte und halbvernarbte Moor- und Haidewege kreuzten meine Straße, die sich oft kaum von ihnen unterschied. Dies beunruhigte mich jedoch kaum, da ich bestimmt wußte, daß ich stets die gerade Richtung inne zu halten und erst nach etwa halbstündigem Marsche bei einem am Wege stehenden Schafstalle mich links zu wenden habe. Auch bekümmerte es mich nicht, daß mein Weg ein immer wüsteres und unwirthlicheres Aussehen bekam; ich wußte, daß er nur sehr selten von den Fuhrleuten benutzt wurde, da diese meistens den bequemeren Weg um das Moor wählten. Von ungefähr in die Tasche greifend, fand ich noch einige Hamburger Cigarren vor, die mir um so willkommener waren, als sich bereits eine mißmuthige Stimmung meiner bemächtigt hatte, die an Langeweile grenzte. Ich zündete mir eine der edlen Havaneserinnen an, und mein Geist gelangte alsbald in ein lebhafteres Fahrwasser. Ich gedachte der Eltern und des Bruders, die ich nach langer Trennung wiedersehen sollte, auch die ferne Holde, noch so ziemlich die erste Geliebte, spielte eine nicht unbedeutende Rolle in meinen wachen Träumen.
Endlich wurde ich jedoch unruhig, da sich nirgends ein Gebäude zeigen wollte, nach welchem ich Richtung hätte nehmen können, und der Weg vor mir kaum noch diesem Namen verdiente. Ich führte die glimmende Cigarre an das Zifferblatt meiner Uhr und erschrak – ich mußte bereits über eine Stunde Weges von der Wümme entfernt sein. Es war zweifellos – ich hatte mich verirrt. Aber nein! Neue Hoffnung erfüllte mich; vor mir tauchte eine unförmliche Masse aus dem Dunkel auf. Es war ein Schafstall, eines jener einfachen Behältnisse, denen man in der Haide häufig begegnet, und die sich am besten als auf den Boden gesetzte Strohdächer niedersächsischer Bauernhäuser bezeichnen lassen. Mit erleichtertem Herzen nahte ich mich, doch leider nur, um mich abermals zu täuschen. Vergebens spähte, ja, tastete ich mit den Füßen nach einem links abschwenkenden Pfade. Es war überhaupt kein anderer Weg vorhanden, als derjenige, welcher mich hergeführt hatte; ich hatte mich doch verirrt!
Heftig pochte ich nun an die Thür des Gebäudes; vielleicht waren Schafe darinnen, und dann konnte möglicherweise der Hirt bei den Thieren übernachten – kein Laut antwortete mir, als das dumpfe Echo von den Schlägen meiner Hand. Ich versuchte hineinzudringen, um drinnen auf der Streu den Morgen zu erwarten, allein die Thür war mit einem Vorhängeschloß von überraschendem Umfange wohl verwahrt. An jedem Auswege verzweifelnd, lehnte ich mich an die Lehmwand des Gebäudes und versank in dumpfes Brüten.
Lange mochte ich so dort gestanden haben, als ein lauter Schrei mich aus meinen Träumereien aufschreckte. War es der Schrei eines Thieres oder eine Einbildung meiner erhitzten Phantasie – ich vermag es nicht zu sagen. Eine alte Geschichte wurde plötzlich in mir lebendig, die ich in meiner Kindheit von älteren Leuten oft hatte erzählen hören. Vor langen Jahren, so berichteten sie, wachte einmal ein alter Schäfer auf dem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_288.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)