Verschiedene: Die Gartenlaube (1875) | |
|
No. 16. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Vierundzwanzig Stunden später konnte Rose seinen Wirthen eine sehr erfreuliche Nachricht bringen. Der Lieutenant Victor Blanchard war glücklich ermittelt worden. Er befand sich unter den gefangenen Officieren in Arnold’s Vaterstadt und hatte seine Wunde bereits geheilt. Madame Blanchard vergoß reichliche Freudenthränen; ihr Mann fühlte sich nicht weniger erleichtert, unterließ aber nicht zu bemerken: es sei also doch richtig mit der Verwundung, und es müsse eine schwere Verwundung gewesen sein, da man ihn habe gefangen nehmen können, wogegen denn Niemand ein Bedenken auszusprechen wagte, am wenigsten Arnold. Gleich nach Tisch beschäftigte sich die ganze Familie eifrigst mit Briefschreiben; aber auch Arnold schrieb an seine Mutter und an Onkel Helmbach, empfahl ihnen den jungen Officier und fügte den Wunsch hinzu, daß ihm seine eigenen Zimmer eingerichtet und zur Disposition gestellt werden möchten; was man Victor Blanchard thue, das thue man ihm selbst.
Nicht weit über eine Woche war seitdem vergangen, als die Feldpost Briefe brachte, die mit nicht geringer Spannung erbrochen wurden. Onkel Helmbach schrieb, daß man sich des lieben Gefangenen sofort bemächtigt und ihn, dem Wunsche Arnold’s entsprechend, in dessen Zimmer einquartiert habe. Man sei allseitig bemüht, ihm das Leben möglichst angenehm zu machen. Er, Onkel Helmbach, hätte ihn am liebsten bei sich selbst aufgenommen, da Clärchen doch die einzige in der Familie sei, die Französisch sprechen könne; aber Clärchens wegen sei das doch wieder nicht angegangen, weil ja keine Frau im Hause sei und man sich vor dem Gerede der Leute in Acht nehmen müsse. Man habe nun aber verabredet, daß er mit seiner Tochter bei der Commerzienräthin für gewöhnlich speisen wolle, damit doch der arme Mensch sich in seiner Muttersprache unterhalten könne. Gleich am ersten Tage habe sich’s freilich herausgestellt, daß Herr Victor Blanchard eifrig darauf aus gewesen sei, Deutsch zu lernen; er habe ein kleines Wörterbuch bei sich gehabt und könne sich mit Hülfe desselben schon ziemlich gut verständlich machen. Seine Cigarren seien ihm sämmtlich zu schwer, aber er habe schon für die feinsten Papiros gesorgt. Man freue sich, der Familie Blanchard, von der er so viel Gutes berichte, eine Gefälligkeit erweisen zu können. Das bestätigte denn auch seine Mutter und trug ihm auf, der Madame Blanchard einen Gruß zu bestellen und ihr zu sagen, daß ihr Sohn auf sie den günstigsten Eindruck gemacht habe.
Victor selbst beruhigte seine Eltern wegen seiner Wunde, die in einem deutschen Lazareth unter der sorgsamsten Pflege eines tüchtigen Arztes sehr glücklich geheilt sei, versicherte, daß man die Gefangenen sehr rücksichtsvoll behandelt und ausreichend unterstützt habe, schilderte seine Ueberraschung, sofort nach Empfang der Briefe, die ihm endlich über seine Angehörigen Gewißheit gaben, von einem sehr liebenswürdigen alten Herrn und einer sehr schönen jungen Dame in einer Equipage aus der Caserne abgeholt und nach einem luxuriös ausgestatteten Privatquartier gebracht zu sein, ertheilte der Commerzienräthin alles Lob als einer sehr aufmerksamen Wirthin und ließ Arnold Rose für die warmen Empfehlungen danken, die ihm eine so freundliche Aufnahme verschafft hätten. Es folgten dann politische Betrachtungen sehr ernster Art, zu denen Herr Blanchard den Kopf schüttelte, und zuletzt Herzensergüsse, die ihm sympathischer waren. „Alles, was wir in unserer Lage thun können,“ schrieb Victor, „ist, daß wir uns auf die Revanche vorbereiten, die wir über kurz oder lang zu nehmen haben, daß wir von unserem Unglück und von unseren Feinden lernen, und daß wir Frankreich, welche Regierung es sich auch geben mag, unser ganzes Herz bewahren. Wir müssen, wir werden siegen. Ich erlerne die deutsche Sprache und hoffe davon einmal Nutzen zu ziehen, wenn ich mit unserer siegreichen Armee diesen Boden betrete.“
„Bravo, bravo!“ rief Blanchard und las diese Stelle laut vor. „Er verliert den Muth nicht; er weiß, was die Ehre Frankreichs fordert. Vielleicht schneller, als er denkt … noch steht Paris, noch steht es.“
Arnold achtete die Gefühle des Patrioten und widersprach nicht. Er merkte bald, daß sich die Stimmung gegen ihn allseitig besserte. An die Stelle der höflichen Rücksichtnahme trat ein freundschaftliches Entgegenkommen. Victor schrieb wieder und wieder, mit immer wärmeren Ausdrücken die trefflichen Menschen lobend, die darin wetteiferten, ihm seine Gefangenschaft in Vergessenheit zu bringen, und die Familie Blanchard bemühte sich dann sichtlich, sich ein gleiches Lob aus dem Munde ihres Gefangenen – sie ahnten freilich nicht, wie sehr er’s war, – zu verdienen.
„Die Feindschaft der Nationen,“ schrieb Victor, offenbar unter dem Einflusse seiner deutschen Umgebung, „darf die Gefühle von Hochachtung und Verehrung nicht ausschließen, die der Mensch dem Menschen schuldet. Die Individuen haben das natürliche Recht, individuell zu empfinden und ihr Verhältniß zu einander nach anderen als politischen Grundsätzen zu regeln. Freilich entscheidet zuletzt patriotische und gesellschaftliche Pflicht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_261.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)