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Seite:Die Gartenlaube (1873) 336.JPG

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

starr und unverwandt auf den jungen Chef gerichtet, als erwarte er aus dessen Munde allein Lossprechung oder Verdammung.

Arthur’s Blick begegnete dem seinigen – nur eine Secunde lang, dann wand er sich los von den kräftigen Armen, die ihn zurückhalten wollten.

„Da unten in der Tiefe sind mehr als Hundert verloren, wenn wir nicht Hülfe bringen, und da, denke ich, wird sich wohl keine Hand anders heben, als zur Rettung. Geben Sie das Zeichen! Ihren Arm, Hartmann! Sie müssen mir helfen!“

Mit einer zuckenden Bewegung streckte Ulrich den Arm aus, um die gebotene Hülfe zu leisten. In der nächsten Minute stand Arthur bereits an seiner Seite.

„Sobald wir glücklich unten sind, senden Sie uns nach, was folgen will und kann. Glück auf!“

„Glück auf!“ wiederholte Ulrich dumpf, aber mit der gleichen Festigkeit. Er klang schaurig, fast geisterhaft, dieser Gruß, den die beiden Männer der Tiefe entgegenriefen, welche sie jetzt aufnahm. Die Maschine setzte ein, und die Förderschale sank langsam. Die Obenstehenden sahen nur noch, wie der junge Chef, schwindelnd von der ungewohnten Fahrt, betäubt von dem zum Glück nur schwach aufsteigenden Dampfe, seitwärts schwankte und wie Hartmann mit einer raschen Bewegung den Arm um ihn legte und ihn kraftvoll aufrecht hielt – dann verschwanden Beide in dem dampfenden Schlunde.

Arthur hatte Recht; sein Vorgehen entschied Alles, wo das Ulrich’s wirkungslos blieb. Man war es gewohnt, daß der Steiger Hartmann um viel geringerer Veranlassung willen sein Leben tollkühn in die Schanze schlug und es stets unverletzt davontrug, so daß sich bei seinen Cameraden bereits eine Art von Aberglauben gebildet hatte, es könne ihm keine Gefahr etwas anhaben. Er war es, der den Fahrschacht unzugänglich gemacht, der durch sein Attentat auf die Maschinen die Hülfe um mehr als eine Stunde verzögert hatte, und sein Vater war drunten mit den Uebrigen, vielleicht durch ihn verloren – da war es selbstverständlich, daß er sich ohne Zögern in ein Wagniß stürzte, das wohl Keiner theilen wollte. Aber als der Chef das Beispiel dazu gab, der verwöhnte, vornehme Mann, der seine Schachte nie betreten hatte, als sie verhältnißmäßig sicher waren, und der jetzt eindrang, wo sie Jedem Verderben drohten, als der voranging, da folgte Alles. Die Nächsten waren die drei Bergleute, die heut Morgen Hand an die Maschinen gelegt hatten und die jetzt unter Leitung eines der Ingenieure anfuhren. Dann kamen neue und immer neue Helfer; es bedurfte keines Aufrufs, keiner Aufforderung. Der Oberingenieur mußte bald genug die Andrängenden abwehren, weil nur ein Theil der Leute zu den Rettungsarbeiten zugelassen werden konnte.

Stunde auf Stunde verging; die Sonne hatte längst die Mittagshöhe erreicht, längst sie wieder verlassen – und noch immer rang da unten im Schoße der Erde Menschengeist und Menschenwille mit den empörten Elementen, um ihnen ihre Opfer zu entreißen. Es war ein Kampf, furchtbarer als je einer im Lichte des Tages ausgefochten wurde: jeder Fuß breit mußte erst erobert, jeder Schritt erst der Todesgefahr abgerungen werden, um das Vordringen zu ermöglichen, aber man drang dennoch vor, und es schien, als sollten die unerhörten Anstrengungen auch unerhört belohnt werden. Man hatte bereits Fühlung mit den Verunglückten; man hoffte sie zu retten; denn noch lebten sie, oder doch wenigstens ein Theil von ihnen. Ein glücklicher Zufall, das Auffinden zweier in der Hast des Forteilens verlorener oder weggeworfener Blenden, hatte auf die richtige Spur geleitet. Die Explosion schien den oberen Schacht nur theilweise berührt und die Bergleute schienen sich noch zeitig genug in einen der sicheren Seitenstollen geflüchtet zu haben, wo die Wetter sie nicht erreichten, wo aber ein theilweiser Einsturz der vorderen Strecke sie verschüttet und von den Ausgängen abgeschnitten hatte. Es galt jetzt, sich bis zu ihnen hindurchzuarbeiten, auf einem Wege, der den Rettern wenigstens die Möglichkeit des Athmens ließ, und zur Ausführung des schnell und umsichtig entworfenen Rettungsplanes wurden jetzt alle Kräfte aufgeboten.

„Und wenn die ganze Erde drauf läge, wir müssen zu ihnen!“ hatte Ulrich ausgerufen, als man die erste Spur fand, und das war das Losungswort geworden, das sich Jeder wiederholte. Da war auch nicht Einer, der zurückwich, nicht Einer, der sich der gefährlichen Pflicht entzog, wohin man ihn auch stellte, und doch hielt bei Vielen die Kraft nicht gleichen Schritt mit dem Eifer, doch mußte Mancher, erschöpft und halbbetäubt, zurückgesandt und durch neue Helfer ersetzt werden, wollte man die Zahl der Opfer nicht noch vermehren. Nur Zwei waren es, die nichts rührte und nichts ermüdete, Ulrich Hartmann mit seinem eisernen Körper und Arthur Berkow mit seinem eisernen Willen, der dem verwöhnten zartgebauten Manne heute Nerven wie von Stahl lieh, und ihn ausdauern ließ in Umgebungen und Gefahren, denen sich so viele Stärkere nicht gewachsen zeigten. Die Beiden hielten aus; Seite an Seite drangen sie vor, immer voran, immer die Ersten. Wo Ulrich’s Riesenkraft das fast Unglaubliche leistete und Hindernisse bewältigte, die für Menschenhände unüberwindlich schienen, da genügte es bei dem „Herrn“ schon, daß er an der Spitze stand, daß er überhaupt da war. Er konnte in der That nicht viel mehr thun, als den Arbeitern Muth geben zu ihrem Werke, aber er gab genug damit, mehr als seine Arme hätten leisten können. Schon dreimal hatte die Hand seines kundigeren Gefährten ihn zurückgerissen, wenn er, unbekannt mit den Gefahren der Schachte, sich zu unvorsichtig aussetzte; schon oft hatten ihn die Ingenieure gebeten, umzukehren, jetzt wo Leute genug zur Hülfe und Beamte genug zur Leitung da waren; Arthur verweigerte es jedes Mal mit vollster Entschiedenheit. Er fühlte, was von seinem Bleiben unter diesen Menschen abhing, die von Aufruhr und Empörung zur Rettung fortgeeilt waren. Sie sahen Alle auf ihren Chef, der, seit er überhaupt zur Selbstständigkeit erwacht war, nur immer gegen sie gestanden hatte, und der heute zum ersten Mal mit ihnen stand in Noth und Tod, der gleich dem Geringsten von ihnen sein Leben aussetzte, gleich ihnen ein junges Weib da oben in Todesangst zurückließ. In diesen Stunden gemeinsamer Arbeit und Gefahr, da wurde es endlich erzwungen, was man dem Sohne und Erben eines Berkow so lange und so hartnäckig verweigert, das Vertrauen. Da unten in der Tiefe der Felsenschachte wurde der alte Haß und die alte Zwietracht begraben, da endigte der Streit. Arthur wußte, daß es sich hier für ihn um mehr handelte, als nur um ein Wagniß, das jeder Andere an seiner Stelle leisten konnte, wußte, daß er sich mit diesem Ausharren die Zukunft seiner Werke und seine eigene Zukunft erkämpfte, und um diesen Preis ließ er Eugenien oben in ihrer Angst allein und blieb.

So ging es fort mit unermüdeter Thatkraft und unermüdeter Ausdauer; man drang vor, langsam, Schritt für Schritt, aber man drang vor, und endlich beugten sich die tückischen Gewalten der Tiefe dem Menschenwillen, der sich Bahn gebrochen zu seinen Brüdern dort unten. Als die Sonne sich droben zum Untergange neigte, da war der Weg gefunden, da wurden die Geretteten emporgehoben zum Lichte des Tages, zwar verletzt, halb erstickt, betäubt von Schrecken und Todesangst, aber doch lebend, und ihnen folgten, gleichfalls zum Tode erschöpft, die Retter. Die beiden Ersten bei dem kühnen Unternehmen, der Chef und Hartmann, sie waren die Letzten beim Rückzuge, sie wollten nicht eher weichen, bis sich Alles in Sicherheit befand.

„Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, daß der Herr und Hartmann noch immer da unten zögern,“ sagte der Oberingenieur unruhig zu den ihn umgebenden Beamten. „Sie waren doch bereits am Ausgange, als die Letzten zu Tage fuhren, und Hartmann kennt doch wahrlich die Gefahren der Schachte hinreichend, um auch nur einen Augenblick länger zu verweilen, als die Nothwendigkeit gebietet. Noch immer wartet die Förderschale dort unten; sie geben kein Zeichen, beantworten keins unserer Signale – was soll das heißen?“

„Wenn nur nicht im letzten Moment noch irgend ein Unglück geschehen ist!“ meinte Wilberg ängstlich. „Es klang mir vorhin so seltsam im Schachte, gerade als die Letzten hier oben ankamen. Die Entfernung war zu groß und das Geräusch der Maschine zu laut, um es mich deutlich unterscheiden zu lassen, aber das ganze Erdreich ist erschüttert – wenn da nur nicht irgend ein Nachsturz erfolgt ist!“

„Um Gotteswillen, da könnten Sie Recht haben!“ rief der Oberingenieur. „Gebt noch einmal mit vollster Kraft die Signale! Bleiben die unbeantwortet, so müssen wir wieder hinunter und nachsehen, was da passirt ist.“


(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_336.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)