Verschiedene: Die Gartenlaube (1873) | |
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„Verzeihen Sie, Fräulein Melanie! Ich sah Sie nicht. Ich war so in Gedanken versunken, daß ich gar nicht auf den Weg achtete.
Fräulein Melanie war die Tochter des Oberingenieurs, dessen Haus der junge Beamte zuweilen besuchte, aber seine Ideen nahmen bekanntlich einen so hohen Flug, daß er wenig auf ein sechszehnjähriges Mädchen achtete, das allerdings eine zierliche Gestalt, ein allerliebstes Gesicht und ein Paar schelmische Augen, sonst aber gar nichts Romantisches besaß. Dergleichen war ihm lange nicht poetisch genug, und die junge Dame ihrerseits hatte sich bisher auch nicht viel um den blonden Herrn Wilberg bekümmert, der ihr ziemlich langweilig vorkam, der es jetzt aber doch für nothwendig hielt, seine unfreiwillige Unart durch einige höfliche Worte wieder gut zu machen.
„Sie kommen jedenfalls von einem Spaziergange zurück, Fräulein Melanie? Waren Sie weit hinaus?“
„Ach nein, gar nicht weit. Papa hat mir alle größeren Spaziergänge verboten und sieht es überhaupt nicht gern, wenn ich jetzt allein ausgehe. Sagen Sie, Herr Wilberg, ist es denn wirklich so gefährlich mit unseren Bergleuten?“
„Gefährlich? Wie meinen Sie das? fragte Wilberg diplomatisch.
„Nun, ich weiß nicht, aber Papa ist bisweilen so ernst, daß mir angst und bange wird; er hat auch schon davon gesprochen, die Mama und mich zum Besuch in die Stadt zu schicken.“
Der junge Mann legte sein Gesicht in melancholische Falten. „Die Zeiten sind ernst, Fräulein Melanie, furchtbar ernst! Ich kann es Ihrem Herrn Vater nicht verargen, wenn er Gattin und Tochter in Sicherheit wissen will, wo wir Männer stehen und kämpfen müssen bis auf den letzten Mann.“
„Bis auf den letzten Mann?“ schrie die junge Dame entsetzt auf. „Um Gotteswillen! Mein armer Papa!“
„Nun, ich meinte das nur bildlich!“ beruhigte sie Wilberg. „Von einer persönlichen Gefahr ist keine Rede, und sollte es dennoch dazu kommen, so schließen den Herrn Oberingenieur ja seine Jahre, seine Pflichten als Gatte und Vater davon aus. Dann treten wir Jüngeren in die Bresche!“
„Sie auch?“ fragte Melanie mit einem etwas mißtrauischen Blick.
„Gewiß, Fräulein Melanie, ich zuerst!“
Herr Wilberg, der, um der Betheuerung noch mehr Nachdruck zu geben, die Hand feierlich auf die Brust gelegt hatte, machte urplötzlich einen Satz rückwärts und retirirte dann eiligst nach der anderen Seite hinüber, wohin ihm Melanie mit gleicher Schnelligkeit folgte. Dicht hinter ihnen stand die riesige Gestalt Hartmann’s, der unbemerkt über die Brücke gekommen war, und dessen Gesicht jetzt ein verächtliches Lächeln überflog, als er den sichtbaren Schreck der beiden jungen Leute gewahrte.
„Sie brauchen sich nicht so zu fürchten, Herr Wilberg!“ sagte er ruhig. „Ich thue Ihnen nichts zu Leide.“
Der junge Beamte schien doch die Lächerlichkeit seines Zurückweichens zu fühlen und einzusehen, daß er als Begleiter und Beschützer einer jungen Dame nothgedrungen ein anderes Benehmen zeigen müsse. Er raffte deshalb seinen Muth zusammen, stellte sich dicht vor die nicht minder ängstliche Melanie und entgegnete mit ziemlicher Festigkeit:
„Ich traue es Ihnen auch nicht zu, Hartmann, daß Sie uns hier auf offener Straße anfallen werden.“
„Die Herren Beamten scheinen doch so etwas zu glauben!“ spottete Ulrich. „Sie laufen allesammt davon, sobald ich mich nur blicken lasse, als wäre ich ein Straßenräuber. Nur Herr Berkow macht es anders,“ in Hartmann’s Stimme grollte es wieder, als könne er den gehaßten Namen nicht ruhig aussprechen. „Der bietet mir allein die Spitze, und wenn ich die ganze Knappschaft hinter mir habe!“
„Herr Berkow und die gnädige Frau sind auch die Einzigen auf den ganzen Werken, die nichts ahnen – –“ sagte Wilberg unvorsichtig.
„Die was nicht ahnen?“ fragte Ulrich, finster und langsam das Auge auf ihn richtend.
Ob der junge Beamte gereizt war durch den schonungslosen Spott über sich und seine Collegen, ob er es für nothwendig hielt, Melanie gegenüber den Helden zu spielen, genug, er bekam plötzlich einen Anfall von Wuth, wie er furchtsame Naturen nicht selten in’s Extrem treibt, und erwiderte rasch:
„Wir laufen nicht vor Ihnen, Hartmann, weil Sie uns die Leute aufwiegeln und jede Verständigung mit ihnen unmöglich machen, deshalb nicht! Aber wir gehen Ihnen aus dem Wege, weil,“ hier senkte er die Stimme, so daß das junge Mädchen seine Worte nicht verstehen konnte, „weil die Stricke gerissen sind, als Sie damals mit Herrn Berkow anfuhren – wenn Sie es denn doch wissen wollen, warum Ihnen Alles so scheu ausweicht.“
Die Worte waren sehr unbesonnen, sehr keck, zumal für einen Mann wie Wilberg, und er hatte auch in der That keine Ahnung von ihrer Wirkung gehabt. Ulrich zuckte auf, mit einem unterdrückten Wuthschrei, der Alles fürchten ließ, aber in demselben Moment wurde sein Gesicht leichenblaß. Die drohend geballte Faust sank nieder und umklammerte krampfhaft das Eisengitter der Brücke. Mit furchtbar arbeitender Brust, mit zusammengebissen Zähnen stand er da, und sein Blick flammte auf den vor ihm Stehenden nieder, als wolle er ihn zerschmettern.
Das war eine zu harte Probe für den Muth der beiden jungen Leute. Wer eigentlich zuerst davon gelaufen war und wer den Anderen mit sich fortgerissen hatte, das wußten sie nicht, aber sie liefen Beide in möglichster Eile, und erst als mehrere Häuser zwischen ihnen und dem Gefürchteten lagen und sie sich überzeugten, daß er ihnen nicht folge, mäßigten sie aufathmend ihre Schritte.
„Um Gotteswillen, was war das, Herr Wilberg?“ fragte Melanie angstvoll. „Was haben Sie denn dem schrecklichen Menschen, dem Hartmann, gesagt, daß er so auffuhr? Welche Verwegenheit, ihn noch zu reizen!“
Der junge Mann lächelte, wenn auch mit bleichen Lippen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß ihm der Vorwurf der Verwegenheit gemacht wurde, und er war sich bewußt, ihn im vollsten Maße verdient zu haben. Jetzt erst sah er die ganze Größe seines Wagnisses ein.
„Der beleidigte Stolz!“ sagte er noch etwas athemlos. „Die Pflicht, Sie zu schützen, Fräulein – Sie sehen, er wagte sich trotzdem nicht an uns.“
„Nein, wir liefen noch zu rechter Zeit davon!“ meinte Melanie ganz naiv. „Und es war ein Glück, daß wir es thaten, es wäre uns sonst am Ende an’s Leben gegangen.“
„Ich lief nur um Ihretwillen!“ erklärte Wilberg empfindlich. „Ich allein hätte ihm jedenfalls stand gehalten und hätte es selbst mein Leben gegolten.“
„Das wäre aber doch traurig gewesen!“ bemerkte die junge Dame. „Sie machen so schöne Gedichte.“
Wilberg erröthete in angenehmster Ueberraschung. „Sie kennen meine Gedichte? Ich glaubte nicht, daß in Ihrem Hause – der Herr Oberingenieur ist etwas eingenommen gegen meine poetische Richtung.“
„Papa sprach neulich mit dem Director darüber!“ sagte Fräulein Melanie und stockte dann plötzlich. Sie konnte dem Dichter unmöglich sagen, daß ihr Vater die Verse, die ihrem sechszehnjährigen Geschmack so rührend erschienen, mit beißendem Spott und den allermalitiösesten Commentaren seinem Collegen vorgelesen und das Blatt endlich auf den Tisch geworfen hatte mit den Worten: „Und mit solchem Unsinn bringt der Mensch jetzt seine Zeit hin!“ Das war ihr schon damals höchst ungerecht und grausam gegen den jungen Mann erschienen, der ihr gar nicht mehr langweilig vorkam, seit er eine unglückliche Liebe hatte, wie sich ja sonnenklar aus seinen Gedichten ergab. Das erklärte und entschuldigte alle Absonderlichkeiten seines Wesens. Sie beeilte sich, ihm zu versichern, daß sie ihrerseits seine Verse sehr schön finde, und fing in aufrichtiger Theilnahme an, ihn, wenn auch noch etwas schüchtern, über sein vermeintliches Unglück zu trösten.
Herr Wilberg ließ sich trösten; er fand es so über alle Beschreibung wohlthuend, endlich ein Wesen anzutreffen, das ihn verstand, und noch weit wohlthuender, sich von diesem Wesen bemitleiden zu lassen. Es war ein rechtes Unglück, daß sie bereits die Wohnung des Oberingenieurs erreicht hatten und daß dieser Herr in höchsteigener Person am Fenster stand, mit verwunderten und etwas kritischen Blicken das junge Paar betrachtend; Wilberg hatte keine Lust, die unvermeidlichen Spottreden seines Vorgesetzten auszuhalten, wenn Melanie sich etwa beikommen ließ, die Begegnung mit Hartmann und ihren beiderseitigen Wettlauf zu erzählen. Er verabschiedete sich daher von der jungen Dame mit der Versicherung, daß sie Balsam in sein Herz geträufelt
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_190.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)