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Seite:Die Gartenlaube (1873) 174.JPG

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Ulrich zuckte leise zusammen und warf einen Blick auf den Abhang, dem sie allerdings nahe genug waren; langsam ließ er den Zügel los und langsam, wie einer unabweisbaren Gewalt nachgebend, trat er zur Seite, um sie vorüber zu lassen. Eugenie sah unwillkürlich zurück; er stand stumm da, das trotzige Auge am Boden, ohne eine Silbe der Erwiderung oder des Abschiedes, und ließ sie ungehindert davon reiten.




Die junge Frau athmete auf, als Afra’s Schnelligkeit sie der gefährlichen Nähe entriß. So muthvoll sie war, hier hatte sie doch gezittert. Sie hätte kein Weib sein müssen, um nach dieser Scene nicht zu wissen, was sie längst schon geahnt, daß das ihr gegenüber so räthselhafte und widerspruchsvolle Wesen dieses Mannes etwas Anderes, etwas weit Gefährlicheres barg als Haß. Noch beugte er sich ihrer Macht; aber er war nahe daran gewesen, die Kette zu sprengen. Sie hatte jetzt eine Probe davon, daß er der „unbändigen Naturkraft“, mit der sie ihn einst verglichen, an Blindheit und Furchtbarkeit nichts nachgab, wenn er erst einmal entfesselt wie sie seine Schranken brach.

Sie hatte das Thal erreicht und war, der erhaltenen Warnung eingedenk, eben im Begriff, die Fahrstraße zu verlassen, als sie von dort her Hufschlag vernahm und sich umwendend einen Reiter gewahrte, der in vollem Galopp heransprengte und in wenigen Minuten an ihrer Seite war.

„Endlich!“ sagte Arthur athemlos, indem er sein Pferd parirte. „Welche Unvorsichtigkeit, gerade heute allein auszureiten! Du hattest freilich keine Ahnung von dem Wagniß.“

Eugenie blickte überrascht auf ihren Gatten, der tiefathmend und glühend erhitzt vom schnellen Ritte an ihrer Seite hielt. Er war nicht in Reitkleidung, trug auch weder Sporen noch Handschuhe; wie er da war, im Hausanzuge, mußte er sich auf’s Pferd geworfen haben, um ihr nachzusprengen.

„Erst vor einer halben Stunde erfuhr ich von Deinem Einfalle,“ fuhr er seine Erregung bemeisternd fort. „Franz und Anton suchen Dich bereits in verschiedenen Richtungen; ich fand allein die rechte Spur. Man sagte mir im Pachthofe, Du seist vor einiger Zeit vorbeigeritten.“

Die junge Frau fragte nicht nach dem Grunde dieser Sorge; sie kannte ihn hinreichend; aber die Sorge selbst überraschte sie doch. Er hätte ja die Diener allein nach ihr ausschicken können. Freilich, die Möglichkeit, seine Gemahlin von den Bergleuten insultirt zu wissen, war sehr unangenehm für den Chef der Werke, und er handelte jedenfalls nur in dieser Eigenschaft, als er ihr persönlich nacheilte.

„Ich war dort oben,“ erklärte sie nach dem Ziele ihres Spazierrittes hinaufdeutend.

„Auf der Höhe? Wo wir damals vor dem Sturme Zuflucht suchten? Dort warst Du?“

Eugenie wurde dunkelroth; sie sah wieder jenes seltsame Aufleuchten in seinen Augen, das wochenlang verschwunden gewesen war. Und weshalb klang die Frage so stürmisch, so athemlos gepreßt? Hatte er denn nicht längst schon jene Stunde vergessen, die sie so oft noch in der Erinnerung peinigte?

„Ich gerieth zufällig dorthin,“ sagte sie hastig, als gelte es eine Schuld abzuwälzen, und diese Berichtigung hatte denn auch sofort den gewünschten Erfolg. Das Leuchten in seinem Blicke verschwand plötzlich und die Stimme wurde kühl und fest.

„Zufällig! Ach so! Ich hätte wissen können, daß eine solche Bergpartie nicht in Deinem Plane lag; Afra erträgt sie ja stets nur sehr unmuthig. Aber Du hättest ‚zufällig‘ auch auf den Weg nach M. gerathen können, und das war es, was ich fürchtete.“

„Und was war dort zu fürchten?“ fragte Eugenie forschend, während sie gemeinschaftlich den breiten Weg verließen und einen schmaleren einschlugen, der mitten durch den Wald führte.

Arthur suchte ihrem Blicke auszuweichen. „Einige Unannehmlichkeiten, die gerade heute dort hätten passiren können. Unsere Bergleute sind nach den oberen Eisenhütten gezogen, um auch dort Widerstand und Lärm anzustiften. Hartmann hat ihnen mit seinen fulminanten Reden die Köpfe bis auf’s Aeußerste erhitzt; ich habe Nachricht, daß gestern bereits Unordnungen dort oben vorgefallen sind, und ein Menschenhaufe, der im aufgeregten Zustande von dem Schauplatze solcher Unruhen kommt, ist schlechterdings zu Allem fähig. Sie müssen gerade jetzt auf der Rückkehr sein.“

„Ich hätte die Fahrstraße ohnehin vermieden,“ sagte die junge Frau ruhig. „Ich war bereits gewarnt.“

„Gewarnt? Durch wen?“

„Durch Hartmann selbst, den ich vor einer Viertelstunde oben im Walde antraf.“

Diesmal war es Arthur’s Pferd, das sich heftig aufbäumte, erschreckt durch die zuckende Bewegung, mit der sein Reiter die Zügel an sich gerissen hatte.

„Hartmann? Und er wagte es, sich Dir zu nahen, Dich anzureden, nach Allem, was in diesen letzten Tagen vorgefallen ist?“

„Es geschah nur, um mich zu warnen, um mir seine Begleitung und seinen Schutz anzubieten. Ich lehnte Beides ab; ich glaubte das Dir und Deiner Stellung schuldig zu sein.“

„Du glaubtest es mir schuldig zu sein!“ wiederholte Arthur schneidend. „Ich bin Dir unendlich verbunden für diese Rücksicht; aber es war gut, daß Du sie nahmst, denn hättest Du Dich von ihm escortiren lassen – so sehr ich es vermeide, den ersten Anlaß zum Conflict zu geben, in diesem Falle hätte ich ihm doch fühlbar gemacht, daß der Anstifter, der Rädelsführer der ganzen Empörung meiner Gemahlin fernzubleiben hat.“

Eugenie schwieg; sie kannte ihren Gatten doch schon hinreichend, um zu wissen, daß er trotz seiner scheinbaren Kälte jetzt furchtbar gereizt war, kannte dies Zusammenpressen der Lippen, dies Beben der Hand; gerade so hatte er ihr am ersten Abende ihres Hierseins gegenübergestanden, nur daß sie jetzt besser als damals wußte, was diese Gelassenheit barg.

Sie ritten schweigend weiter durch den sonnigen Wald; der Hufschlag der Pferde klang nur gedämpft auf dem weichen Moosboden. Auch hier überall Frühlingsduft und Frühlingsathem, auch hier der klare tiefblaue Himmel, der sich über den Tannenwipfeln wölbte, und auch hier das geheime Weh in ihrem Innern, nur daß es sich noch mächtiger, noch schmerzender regte, als dort oben auf der Höhe. Die Thiere gingen auf dem schmalen Wege Seite an Seite. Die schweren Falten von Eugeniens Reitkleid streiften die Gebüsche, und ihr Schleier flatterte mehr als einmal über Arthur’s Schulter. Bei solcher Nähe mußte sie es nothgedrungen bemerken, daß er jetzt, wo die Erhitzung des schnellen Rittes geschwunden war, unendlich bleich aussah. Freilich, er hatte niemals die frische lebensvolle Farbe der Jugend gehabt, aber das war doch jetzt eine andere Blässe als die des jungen Residenzlöwen, der die Abende in den Salons und die Nächte im Spiel durchschwärmte, um dann den Tag über abgespannt und übersättigt auf seinen Sophas zu liegen, bei geschlossenen Vorhängen, weil die müden verwöhnten Augen das Sonnenlicht nicht ertrugen. Dies bleiche Aussehen stammte wohl aus derselben Quelle, wie die finstere Sorgenfalte auf seiner Stirn, wie der ernste, ja düstere Ausdruck des Gesichtes, das sonst immer nur träge Gleichgültigkeit gezeigt. Aber Arthur Berkow gewann unendlich bei einer Veränderung, die jedem Anderen zum Nachtheil gereicht hätte. Eugenie sah jetzt erst, daß ihr Mann auf Schönheit Anspruch machen konnte; früher hatte sie es nicht sehen wollen; für sie gingen in der schlaffen Theilnahmlosigkeit seines Wesens alle anderen Vorzüge unter, und sie traten wirklich erst jetzt hervor, mit diesem Zuge von Energie, der sich so neu und ungewohnt in seinem Antlitz, in seiner ganzen Haltung zeigte, und der doch wohl längst dagewesen war, nur verwischt und untergegangen in der Blasirtheit, wie so vieles Andere. Ja wohl, die versunkene Welt fing an heraufzusteigen aus ihrer Tiefe, der nahende Sturm hatte sie wachgerufen, der allein – Eugenie fühlte fast mit einer Art von Bitterkeit, daß sie keinen Theil an diesem Erwachen hatte, daß sie das Zauberwort nicht besessen, das den Bann gelöst; er riß sich ja mit eigener Kraft empor, was bedurfte es dazu einer fremden Hand!

„Es tut mir leid, daß ich Deinen Spazierritt abkürzen mußte,“ unterbrach Arthur endlich das Schweigen, aber es geschah in jener höflich kühlen Weise, die er stets ihr gegenüber annahm; „der Tag ist herrlich!“

„Ich fürchte, Dir war ein Ritt in’s Freie nothwendiger als mir!“ In den Ton der jungen Frau mischte sich eine vielleicht unbewußte Besorgniß. „Du siehst so bleich aus, Arthur!“

„Ich bin die Arbeit nicht gewohnt!“ sagte er mit einer Art von herbem Spott. „Das kommt von der Verweichlichung!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_174.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)