Verschiedene: Die Gartenlaube (1873) | |
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großes Hinderniß ihrer Wünsche aus dem Wege geräumt hatte. Er hätte schwerlich je in die Aufhebung einer Verbindung gewilligt, die sein Ehrgeiz so sehr erstrebt und die er theuer genug erkauft hatte. Sein Sohn dachte anders darin. Ihm war jene Verbindung ebenso gleichgültig, wie die Gemahlin, die er sich in seiner ehemaligen passiven Nachgiebigkeit hatte aufzwingen lassen. Er hatte ihr freiwillig die Trennung zugestanden, noch ehe sie selbst einen Versuch gemacht, dieselbe von ihm zu erreichen, und ein Schritt, der fast überall so unendlich viel Kämpfe, Thränen und Bitterkeiten kostet, der nicht selten alle Leidenschaften des Menschenherzens in ihrer ganzen Tiefe aufwühlt, vollzog sich hier so ruhig und leidenschaftslos, in einem so vollkommenen gegenseitigen Einverständniß, und mit einer solchen Kälte, Höflichkeit und Herzlosigkeit, daß es wirklich ganz bewundernswerth war.
Afra bäumte sich plötzlich in die Höhe. Das Thier war nicht gewohnt, mit der Reitgerte angetrieben zu werden, und noch dazu so heftig, als es eben geschah; es hatte überhaupt heute viel von der Ungeduld seiner Herrin zu leiden, und wäre diese nicht eine so vollendete Meisterin in der Reitkunst gewesen, das feurige, leicht gereizte Pferd würde ihr Mühe genug gemacht haben. So zügelte sie es nach kurzer Anstrengung, aber die feinen Augenbrauen der jungen Frau blieben zusammengezogen und die Lippen fest aufeinandergepreßt, wie in innerem Zorne, ob über den Widerstand Afra’s oder über den Mangel an Widerstand von einer anderen Seite, das ließ sich nicht entscheiden.
Sie hatte inzwischen den Pachthof erreicht, der eine halbe Stunde entfernt im Thale lag, und nun ging es bergaufwärts, freilich nicht den steilen Fußpfad hinauf, den sie damals mit Arthur hinabstieg und der reitend überhaupt nicht zu passiren war; nicht weit davon führte ein Fahrweg in langen, aber bequemen Windungen auf die ohnehin nur mäßige Höhe. Dennoch ertrug ihr Pferd, des Bergaufsteigens ungewohnt, nur unwillig die Anstrengung, und sie mußte, oben angelangt, Halt machen, um ihm die nöthige Erholung zu gönnen.
Jetzt freilich waren die Nebelschleier verschwunden, die damals über dem Gebirge flatterten, und der helle Sonnenschein floß so leuchtend warm auf die Erde nieder, als habe es nie eine Zeit gegeben, wo sich Regen und Sturm hier um die Herrschaft stritten und die Landschaft ringsum einem grauen, gestaltlosen Nebelbilde glich. Noch lagen die Thäler duftig blau im kühlen Morgenschatten. Desto klarer standen die Berge da, all die zahllosen Kuppen, von denen eine die andere überragte, eine die andere zurückdrängte, nur ein einziges grünes Waldmeer, bis hin zu den fernen blauen Höhenzügen. Die dunklen Tannen hatten sich geschmückt mit lichtem, frischem Grün, und drinnen auf dem Waldboden, draußen auf dem felsigen Grunde, zwischen Wurzeln und Gestein, wo nur eine Ranke Platz finden oder ein Pflänzchen Wurzel fassen konnte, da blühte und duftete es auch in tausend Formen und Farben. Und dazu schäumten die Bäche in’s Thal hinab, und die Quellen rieselten, und darüber wölbte sich ein wolkenloser tiefblauer Frühlingshimmel. Das Alles war so goldig klar, so frei und groß, als müsse in diesem neu erwachten Leben der Natur nun auch jede Wunde heilen, jede Kette brechen, als könne nichts dort athmen, was nicht der Freiheit, dem Glücke verwandt war.
Und doch war der Blick der jungen Frau so seltsam ernst; ihre Züge waren so schmerzlich gespannt, als läge für sie eine verborgene Qual in all dieser Schönheit ringsum. Sie hätte doch aufathmen müssen bei dem Gedanken an die auch ihr verheißene Freiheit, die ihr zu Theil werden sollte, noch ehe der nächste Frühling die Erde wieder grüßte. Warum konnte sie es denn nicht, warum zuckte bei dieser Vorstellung eine Empfindung durch ihre Seele, die selbst dem Schmerze verwandt war? Wirkte vielleicht die Pein jener Stunde noch nach, in welcher zuerst das Trennungswort gesprochen und angenommen wurde? Sie sehnte sich ja so heiß nach dieser Trennung, nach der Rückkehr zu den Ihrigen; sie litt so schwer unter den Ketten, die sie kaum mehr ertragen konnte; seit jenem Beisammensein hier oben konnte sie es nicht mehr! Bis dahin war sie fest und sicher gewesen in ihrer Aufopferung für den Vater, in der Resignation des aufgezwungenen Schicksals, im Haß gegen die, welche es ihr aufgezwungen, aber mit jener Stunde schien sich die ganze Natur ihrer Empfindungen geändert zu haben. Mit ihr hatte der geheime Widerstreit in ihrem Innern begonnen, der Kampf gegen ein Etwas, das dunkel und unausgesprochen im tiefsten Grunde ihrer Seele lag, und das sie nicht Herr über sich werden lassen wollte, um keinen Preis, und doch hatte nur dies Etwas sie heute Morgen hinausgetrieben und sie fast wider ihren Willen fortgezogen bis an diesen Ort, und doch war es allein schuld daran, daß die Tochter des Baron Windeg die Etiquette soweit vergaß, den Diener zurückzulassen, der sie sonst immer auf ihren Ausflügen begleitete. Sie konnte und mochte heut’ keinen Zeugen haben – und es war gut, daß sie keinen hatte, denn als sie einsam droben auf der Höhe hielt, da überkam es sie mitten in all der sonnigen Frühlingspracht wie eine leise Sehnsucht nach dem geheimnißvollen Reiz jener Stunde, wo Nebel und Wolken um sie her wogten, wo die Tannenwipfel über ihnen rauschten und der Sturm in den Schluchten und Thälern brauste, wo jene großen braunen Augen, die sich zum ersten Mal entschleiert zeigten, ihr auch die erste Ahnung davon gaben, daß aus diesem Mann vielleicht viel, vielleicht Alles hätte werden können, wenn er geliebt worden wäre und geliebt hätte, ehe die Hand des eigenen Vaters ihn in den Strudel riß, in dem schon so manche Kraft zu Grunde gegangen ist. Und mit dieser Erinnerung wachte etwas auf, was Eugenie Windeg nie gekannt hatte und was erst der Gattin Berkow’s zu lernen aufbehalten war, ein Weh, viel ruhiger, aber auch viel tiefer als Alles, was sie bisher erlitten, und sie legte die Hand über die Augen, aus denen ein heißer Thränenstrom unaufhaltsam hervorstürzte.
„Gnädige Frau!“
Eugenie fuhr zusammen und zugleich machte Afra, erschreckt durch die fremde Stimme, einen Sprung seitwärts, aber in demselben Augenblick hatte auch schon eine kräftige Hand den Zügel ergriffen und zwang das Thier zur Ruhe. Ulrich Hartmann stand dicht neben demselben.
„Ich wußte nicht, daß das Pferd so schreckhaft ist, aber ich hatte es auch schnell genug am Zügel!“ sagte er im Tone der Entschuldigung, während ein Blick halb der Besorgniß und halb der Bewunderung über die junge Reiterin hinglitt, die trotz der Ueberraschung fest im Sattel geblieben war.
Eugenie fuhr rasch mit der Hand über das Antlitz, um die Thränenspuren schnell zu verwischen, freilich zu spät; ihr Weinen mußte nothwendig gesehen worden sein, und der Gedanke daran jagte eine tiefe Röthe auf ihre Wangen und gab ihrer Stimme einen Ausdruck von Unwillen, als sie rasch und etwas befehlend sagte:
„Lassen Sie den Zügel los!“ Afra ist nicht gewohnt, von Unbekannten gehalten zu werden, und scheut leicht bei jeder fremden Berührung. Sie bringen mich und sich in Gefahr mit Ihrer Nähe!“
Ulrich gehorchte und trat zurück. Eugenie legte mit schmeichelnder Liebkosung ihre Hand auf den Hals des Thieres, das in der That nur schnaubend und ungeduldig die fremde Hand am Zügel ertragen hatte, deren Macht es gleichwohl im ersten Moment erkannte. Allein Afra ließ sich durch die Liebkosung der Herrin in wenigen Secunden beruhigen.
Während dessen hingen Hartmann’s Blicke unverwandt an der jungen Frau, die sich freilich zu Pferde so vortheilhaft ausnahm, wie nur wenige ihres Geschlechts. Das dunkle Reitkleid, das Hütchen mit dem Schleier auf den blonden Flechten und über dem schönen, noch vom Weinen gerötheten Antlitz, die leichte und sichere Haltung, die sie trotz der Unruhe Afra’s keinen Augenblick verlor, zeigten das Ebenmaß der hohen schlanken Gestalt im vollsten Lichte. Die ganze Erscheinung, wie sie, vom hellen Sonnenlicht umflossen, auf dem Rücken des schönen Thieres saß, war ein vollendetes Bild von Kraft und Anmuth.
„Sie waren hier oben, Hartmann?“ fragte Eugenie, in der leisen Hoffnung, er könne die Höhe erst im Moment seiner Anrede erreicht und ihre Thränen nicht gesehen haben. „Ich bemerkte Sie vorhin nicht.“
„Ich stand dort drüben!“ Er deutete nach dem Ausgange des Waldes hinüber, den sie allerdings nicht beachtet hatte. „Ich sah Sie heraufreiten und blieb, um auf Sie zu warten.“
Die junge Frau, die im Begriff war, an ihm vorüber in den Wald zu reiten, hielt befremdet inne.
„Auf mich zu warten?“ wiederholte sie. „Und weshalb?“
Ulrich umging die Antwort. „Sie sind allein, gnädige Frau?
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_172.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)