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Seite:Die Gartenlaube (1873) 075.JPG

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Mehr als vier Wochen waren seit der Festlichkeit vergangen, aber Herr Berkow schien bei der „Ueberraschung seiner Kinder“, wie er seinen allerdings etwas frühen Besuch bei den Neuvermählten nannte, keineswegs die gehoffte Freude gefunden zu haben; er war bereits nach einigen Tagen wieder nach der Residenz zurückgekehrt, wo allerdings eine ganze Last von Geschäften auf ihn harrte. Erst jetzt wurde er zu einem zweiten, diesmal längeren Aufenthalte hier erwartet. In dem Leben des jungen Paares hatte sich inzwischen nichts verändert, nur daß es womöglich noch getrennter, noch kälter und aristokratischer war, als im Anfange. Man schien auf beiden Seiten gleich sehr das Ende dieser „Flitterwochen“ herbeizusehnen, die man sich nun einmal vorgenommen hatte, hier in der Landeinsamkeit zuzubringen, bis der Sommer eine größere Reise möglich machte, von der man dann im Herbste in die Residenz zurückkehren wollte, um dort den ständigen Aufenthalt zu nehmen. Der künftige Haushalt wurde bereits von Seiten Berkow’s mit verschwenderischem Aufwande eingerichtet.

Es war nach eben vollendeter Frühschicht, als Ulrich Hartmann nach dem Hause seines Vaters zurückkehrte, aber er war diesmal genöthigt, seinen sonst raschen Schritt bedeutend zu mäßigen, denn an seiner Seite ging Herr Wilberg, der, gleichfalls vom Bureau kommend, ihn glücklich abgefangen und sich ihm angeschlossen hatte. Es war immerhin auffallend, einen der Beamten in solcher Vertraulichkeit mit dem Steiger Hartmann zu sehen, der sich sonst in jenen Kreisen nicht der geringsten Sympathie erfreute, und noch auffallender, daß diese Vertraulichkeit[WS 1] gerade von Herrn Wilberg ausging, wenn man nicht die alte Lehre von den Extremen, die stets einander suchen, als Erklärung gelten lassen wollte – aber hier lag doch noch etwas Anderes vor. Der Ober-Ingenieur wußte freilich nicht, was er wieder mit seinen Spöttereien angerichtet hatte, aber seine lediglich als Spott hingeworfene Aeußerung von dem interessanten Balladenstoff war leider nur auf einen allzu empfänglichen Boden gefallen. Wilberg war im vollen Ernste daran, den Stoff poetisch zu verarbeiten, nur daß er sich selbst noch im Zweifel befand, ob das zu schaffende Meisterwerk Ballade, Epos oder Drama werden würde; vorläufig stand nur eins fest, daß es die sämmtlichen Vortrefflichkeiten dieser drei Dichtungsarten in sich vereinen werde. Zum Unglück für Ulrich aber hatte dessen energische und muthvolle That den angehenden Dichter auf die Idee gebracht, daß der junge Retter sich außerordentlich zu einem tragischen Helden eigne, und er lief ihm deshalb auf Schritt und Tritt nach, um diesen höchst interessanten Charakter zu studiren. Als dieser sich nun gar noch beikommen ließ, die ihm angebotene bedeutende Belohnung mit einem Stolze auszuschlagen, der selbst den Director kleinlaut machte, da wuchs der romantische Nimbus in den Augen Wilberg’s zu einer Höhe, die nichts zu erschüttern vermochte, selbst nicht die rücksichtsloseste Grobheit von Seiten des Bewunderten und die scharfen Bemerkungen der Vorgesetzten, die diese Intimität nicht gerade gern sahen. In der That zeigte sich Ulrich sehr wenig entgegenkommend bei den „Studien“, die man an ihm machte; er versuchte oft genug ungeduldig, die ihm aufgedrungene Gesellschaft abzuschütteln, wie man etwa eine lästige Fliege abschüttelt, aber das half ihm wenig. Herr Wilberg hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, einen Helden in ihm zu sehen, allerdings einen rauhen, wilden, unbändigen Helden, und je ärger er sich in dieser Hinsicht benahm, desto entzückter war jener, sein Charakterbild sich so klar entwickeln zu sehen, desto eifriger studirte er an ihm herum. Der junge Bergmann zuckte schließlich die Achseln und ließ das Unvermeidliche über sich ergehen; endlich that die Gewohnheit das Ihrige, so daß die Beiden doch immerhin zu einer Art von Vertraulichkeit gelangten, bei der allerdings das Respectverhältniß übel fortkam.

Der Wind blies noch ziemlich kalt von Norden her. Herr Wilberg knöpfte vorsichtig seinen Paletot zu und schlang die Enden seines dicken wollenen Shawls sorgfältig ineinander, während er seufzend sagte:

„Sie sind doch ein glücklicher Mensch, Hartmann, mit Ihrer Riesennatur und Ihrer Riesengesundheit. Das fährt die Schachte herauf und herunter, von der Hitze in die Kälte, und steht dann wieder in dem scharfen Winde hier oben, während ich mich ängstlich vor jedem Temperaturwechsel hüten muß. Und dabei bin ich so nervös, so angegriffen, so reizbar – das kommt davon, wenn der Geist den Körper allzu sehr beherrscht! Ja, Hartmann, es kommt von dem Uebermaße der Gefühle und Gedanken!“

„Ich glaube, Herr Wilberg, es kommt von Ihrem ewigen Theewassertrinken,“ meinte Ulrich mit einem halb mitleidigen Blicke auf den kleinen schwächlichen Beamten. „Wenn Sie Morgens und Abends immer nur das dünne heiße Zeug schlucken, kommen Sie nie zu Kräften.“

Wilberg sah mit unendlicher Ueberlegenheit an seinem Rathgeber in die Höhe. „Das verstehen Sie nicht, Hartmann! Ich könnte unmöglich eine so derbe Kost wie Sie ertragen; meine Constitution ist nicht danach, und überdies ist der Thee ein höchst ästhetisches Getränk. Er belebt mich; er regt mich an, wenn ich das gemeine Tagewerk hinter mir habe und Abends in stillen Stunden die Muse sich mir naht –“

„Sie meinen, wenn Sie Verse machen?“ unterbrach ihn Ulrich trocken. „Also dazu brauchen Sie den Thee? Nun, es wird auch danach!“

Es war ein Glück, daß dem schwer beleidigten Dichter in diesem Moment gerade ein Reim durch den Kopf ging, den er festzuhalten strebte; er überhörte auf diese Weise die Ungezogenheit seines Begleiters gänzlich und wandte sich in der nächsten Minute wieder ganz freundlich zu ihm.

„Ich habe eine Bitte an Sie, Hartmann, ein Verlangen, eine Forderung!“ sagte er, sich im regelrechten Klimax steigernd, „die Sie mir gewähren müssen um jeden Preis. Sie sind im Besitze eines Gegenstandes, der für Sie völlig werthlos ist und der mich zum Glücklichsten der Sterblichen machen würde; Sie müssen ihn mir abtreten.“

„Was muß ich Ihnen abtreten?“ fragte Ulrich, der wie gewöhnlich, wenn Wilberg sprach, nur halb hingehört hatte, mit gleichgültiger Miene.

Herr Wilberg erröthete, seufzte, blickte zu Boden, seufzte zum zweiten Male und hielt es nach diesen Vorbereitungen für passend, mit der Sprache vorzugehen.

„Sie werden sich des Tages erinnern, an dem Sie die gnädige Frau retteten. Ach, Hartmann, es ist ewig schade, daß Sie so gar kein Verständniß für die Poesie dieser Situation haben; wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre! Doch lassen wir das! Die gnädige Frau bot Ihnen ihr eigenes Taschentuch an, als sie Sie bluten sah. Sie behielten es in der Hand, weil sofort Hülfe von anderer Seite herbeikam. Mein Gott, Sie können solch ein Ereigniß doch unmöglich vergessen haben!“

„Nun, was ist’s mit dem Tuche?“ fragte Ulrich, der plötzlich aufmerksam geworden war.

„Ich wünsche es zu besitzen,“ murmelte Wilberg, melancholisch die Augen niederschlagend. „Fordern Sie von mir, was Sie wollen! aber überlassen Sie mir dieses theure Andenken von einer Frau, die ich anbete!“

„Sie?“ rief Ulrich mit einem Tone, daß sein Begleiter zurückprallte und sich ängstlich umsah, ob Niemand in der Nähe sei.

„Schreien Sie doch nicht so, Hartmann! Sie brauchen sich durchaus nicht zu entsetzen, daß ich die Gemahlin unseres künftigen Chefs anbete. Das ist etwas ganz Anderes, als was Sie gewohnt sind, sich unter Liebe vorzustellen; das ist – ja, Sie wissen freilich nicht, was platonische Liebe heißt.“

„Nein!“ entgegnete der junge Bergmann kurz, seinen Schritt beschleunigend und augenscheinlich beflissen, das Gespräch abzubrechen.

„Sie können das auch unmöglich begreifen!“ erklärte Herr Wilberg mit unendlicher Selbstzufriedenheit, „denn Sie können und werden sich nie zu der erhabenen Reinheit von Gefühlen aufschwingen, deren nur die höchste Bildung fähig ist, von Gefühlen, die ohne jede Hoffnung, ja selbst ohne Wunsch, sich nur mit stummer seliger Anbetung aus der Ferne begnügen. Oder was meinen Sie denn, daß man anders thun könnte, wenn man eine Frau liebt, die nun einmal einem Andern angehört?“

„Man überwindet’s eben!“ sagte Ulrich dumpf, „oder –“

„Oder?“

„– man schlägt den Andern nieder.“

Herr Wilberg retirirte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der andern Seite des Weges hinüber, wo er im vollsten Entsetzen stehen blieb.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Vertraulichlichkeit
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_075.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)