Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
|
wenige bevorzugte Gefangene bestimmte Bau. An den Ecken sprangen acht Thürme vor; sie trugen die Namen „Tour de la Comte“, „du Tresor“, „de la Chapelle“, „de la Bertandière“, „du Puits“, „du Coin“, „de la Basinière“ und – wunderbarer Weise! – „de la Liberté“. Ein Haus, in dem sich der sogenannte Aufnahmesaal, die Wohnung des Kerkermeisters, die Küchen und die Gemächer des Königslieutenants befanden, trennten den innern oder Brunnenhof von dem erwähnten großen Hofe.
Rund um die ganze Bastille herum lief ein fünfundzwanzig Fuß breiter Graben, von einem sechszig Fuß hohen Wall umgeben. Dieser letztere trug eine hölzerne Galerie, auf der Tag und Nacht Schildwachen hin und wieder schritten. Außerhalb der Bastille lag eine mit Bäumen bepflanzte Bastion; ebenso auf der andern Seite. Zwischen diesen beiden Bastionen spannte sich die Brücke St. Antoine über den Wallgraben der Stadt. Sie mündete vor der Bastille auf einen mit stattlichen Häusern bebauten großen Platz.
So stellte sich das Aeußere der entsetzlichen Zwingburg dar. Noch düsterer und unheimlicher sah es in ihren inneren Räumen aus. Die einzelnen Zellen waren schwarz vom Rauche der Jahrhunderte und voll von Schmutz und Ungeziefer und enthielten kein anderes Mobiliar als mit Vorhängen umhüllte kleine Betten und ein paar wurmstichige Tische und Stühle. Vor den doppelten eisernen Thüren und vor den winzigen Fensterluken waren dicke eiserne Gitter angebracht, so daß nur spärliches Licht in die engen Gemächer fiel. Sobald ein Gefangener eingeliefert wurde, nahm man ihm ab, was er an Geld oder Werthsachen bei sich trug, überreichte ihm jedoch ein Verzeichniß der mit Beschlag belegten Gegenstände für den – freilich sehr seltenen – Fall, daß ihm die Luft der Freiheit wieder zu athmen vergönnt ward. Die wachthabenden Soldaten hatten den strengen Befehl, ihre Hüte über das Gesicht hinabzuziehen, wenn ein neuer unfreiwilliger Ankömmling das Kerkerthor passirte, damit sie die Person desselben nicht erkennen konnten, und in der Kirche wurden die Gardinen vor den Sitzen der Gefangenen nur im Augenblicke der „Wandelung“ in die Höhe gelassen. Die Mahlzeiten fanden um ein Uhr Mittags und um sieben Uhr Abends statt, und da pro Kopf dafür täglich eine Pistole ausgesetzt war, so hätte die Kost keine schlechte sein können, wäre nicht von den Kerkermeistern das halbe Essen unterschlagen und die andere Hälfte verfälscht worden. Die am meisten gefürchteten Gefängnisse waren die Calottes oder Dachkammern in den Thürmen, die unter dem Niveau der Wassergräben belegenen Gelasse und die Räumlichkeiten unter dem Geschützwalle, die bei jedem Salutschusse bis in den Grund hinab erbebten.
Gewiß, es war eine Hölle auf Erden, in welche sich Menschen wegen des kleinsten Verstoßes wider einen königlichen Günstling, einen einflußreichen Priester, einen bestochenen Beamten verbannt sahen. Das „Laßt alle Hoffnung zurück, Ihr, die Ihr hier eintretet“ stand deutlich genug über den Pforten dieses Grabes geschrieben, und dennoch ist es manchem der bei lebendigem Leibe darin Eingesargten gelungen, seine Fesseln zu sprengen und an das Licht des Tages und der Freiheit emporzutauchen.
Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ludwig der Fünfzehnte schwelgte in seinem Parc aux Cerfs und Frau von Pompadour stand im Zenith ihrer Macht. Die stolzesten Edelen des Hofes beugten sich in Furcht und Demuth vor der Lieferantentochter, wenn sie auch im Stillen die allgewaltige Favorite haßten und verachteten. Um dieselbe Zeit kam, zur Vollendung seiner militärischen Studien, ein junger Ingenieurofficier nach Paris, Henri de la Tude, der Sohn eines St. Ludwigsritters, des Königslieutenants von Sedan. Henri de la Tude wollte Carrière machen. Dazu aber gab es keinen sicherern Weg, als die Gunst der Marquise von Pompadour. Der junge de la Tude verfiel denn auf einen höchst abenteuerlichen Gedanken: er spiegelte der derzeitigen Regentin Frankreichs vor, er habe ein Complot ausgespürt, welches von Adeligen und Priestern gegen ihr Leben angezettelt sei. Die Angabe erwies sich sofort als eine falsche und der Denunciant ward verhaftet, erst in die Bastille abgeführt, dann in das Schloß von Vincennes gebracht. Er entzog sich seiner Haft durch die Flucht, überlieferte sich indeß Ludwig dem Fünfzehnten auf Gnade und Ungnade. Der König bezeigte dem jungen Manne vieles Wohlwollen, ließ ihn aber, auf Anstiften der Frau von Pompadour, doch von Neuem in die Bastille setzen. Und vergeblich blieben jetzt alle Versuche des Irregeleiteten, seine Freiheit zu erwirken. Die Marquise hatte einmal ihren Haß auf ihn geworfen, und dagegen war selbst der König machtlos.
Achtzehn Monate lang schmachtete La Tude in einem unterirdischen Verließe. Später ward er zwar aus diesem finstern Kerker erlöst und in eine überirdische Zelle befördert, zusammen mit einem andern Opfer der Marquise, einem gewissen d'Alègre, allein noch immer war sein Loos grausam genug. Eingeschlossen von ungeheuer hohen, sechs Fuß dicken Mauern, von vierfachen Eisengittern vor jedem Fenster und über jedem Kamine, von mit sumpfigem Wasser erfüllten tiefen Gräben, ohne Freunde, die ihm Sägen oder Feilen zusteckten, – wie durfte er unter solchen Umständen auf Rettung aus seiner jammervollen Lage hoffen? Und dennoch bewerkstelligte der junge Officier sein Entrinnen aus diesem grauenhaften Fegefeuer!
Welche Vorsicht, welche Energie, welche fast übermenschliche Ausdauer erforderte es, um dieses Ziel zu erreichen! Jedwede Art von schneidenden Werkzeugen waren den Gefangenen in der Bastille auf das Strengste verpönt, und nicht um hundert Louisd'or hätte sich ein Kerkermeister zur Herbeischaffung nur einer Viertelelle Band oder Schnur bewegen lassen. Keine Kunde aus der Außenwelt fand Eingang in die Zwingburg; Beamte, Aerzte, Kerkermeister hatten für die Gefangenen eine einzige stereotype Anrede. „Guten Morgen! Guten Abend! Wünscht Ihr etwas?“ oder „Was fehlt Euch?“ Jahre lang hätte Bruder oder Vater eines Gefangenen in der Zelle neben oder über demselben schmachten können – er hätte nichts davon erfahren!
Ein Koffer mit Wäsche war das einzige Arsenal, das La Tude zu Gebote stand, seine Flucht vorzubereiten. Sein Mitgefangener d’Alègre lachte, da jener auf dies nutzlose Möbel als auf ihren Rettungsanker hinwies. Doch La Tude ließ sich nicht irre machen. Sieben Jahre hindurch brütete er Tag und Nacht über seinem Fluchtplan, und endlich stand dieser fertig vor seiner Seele. Er wußte jetzt genau, was er zu seinem „Ausbruch“ brauchte: Siebenhundert Ellen Schnure, – und zwei Leitern, die eine von Holz, dreißig Fuß lang, die andere aus Stricken, hundertachtzig Fuß. Ferner mußte das schwere Eisengitter über dem Kamine ausgebrochen und während der Nacht, höchstens zwölf bis fünfzehn Fuß entfernt von einer Schildwache, durch eine viele Fuß starke Mauer ein Loch gebohrt werden. Und das Alles mußten die Beiden mit ihren bloßen Händen vollbringen! Allein das genügte noch nicht! In ihrer kleinen Zelle, die täglich zwei Mal von Beamten und Schließern revidirt wurde, mußten sie auch die beiden Leitern verbergen. „Unmöglich! Ganz unmöglich!“ rief d’Alègre ein Mal über das andere aus, als ihm La Tude diesen Plan entwickelte. Der Energie aber wird Alles möglich.
La Tude hatte wahrgenommen, daß der Gefangene in Nr. 3 des Thurms La Comte – der Zelle über seiner eigenen – niemals nur das leiseste Geräusch vernehmen ließ, weder seinen Tisch oder Stuhl rückte, daß man es hören konnte, noch hustete oder nieste. Jeden Sonntag und Mittwoch ging derselbe, ebenso wie La Tude und dessen Freund, zur Messe, und zwar kam er stets vor ihnen die Treppe herunter und stieg sie nach ihnen wieder hinauf. Seine Zelle in Augenschein zu nehmen, war unerläßlich; um dies zu ermöglichen, erdachte La Tude einen sehr einfachen, doch sinnreichen Plan. Bei der Rückkehr aus der Messe sollte d’Alègre sein Taschentuch herausziehen und es die Treppe hinunterfallen lassen. Dies geschah, und der Schließer ward gebeten, es wieder heraufzuholen. Während der Mann diesem Wunsche entsprach, eilte La Tude die Stufe hinauf, schob den Riegel von Nr. 3 zurück und sah sich in dem geöffneten Raume um. Die Zelle mochte neun bis zehn Fuß hoch sein. Hierauf maß er geschwind drei Stufen der Treppen und zählte, wie viel derselben bis zu seiner eigenen Zelle vorhanden waren. Alsbald leuchtete ihm ein, daß die Decke der letzteren doppelt sein mußte, wenigstens fünf Fuß dick, um den Schall zu dämpfen. Ein ähnlicher hohler Raum, so schloß er, lag jedenfalls auch zwischen seiner und der nächst unteren Zelle.
Die Augen funkelten ihm, als er sich mit d’Alègre wieder zwischen seinen vier Mauern eingeschlossen sah.
„Geduld! Muth! Wir werden frei werden! Die Decke ist hohl; dort können wir unsere Stricke verbergen.“
„Stricke?“ frug sein Freund. „aber wir können ja keinen Zoll davon auftreiben!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_851.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)