Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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verwundert und lehnte oben eine Leiter an die Wand des oberen Corridors, als ich die Treppe herauf kam. „Muß ich doch gar auch noch die großen Lampen aus den Geschäftslocalen hier herauf hängen!“
„Lassen Sie das doch, Erdmann,“ meinte die alte Dame, die aus dem ersten Salon trat – eine wahre Lichtfluth quoll mit ihr heraus. „Ich bin glücklich, daß es endlich einmal hell wird im alten Claudiushause.“ Mit einem feinen, schelmischen Lächeln. fuhr sie mir über das Haar und eilte in die Hausflur hinab.
Dieses Lächeln trieb mir das Blut in die Wangen. Scheu ließ ich die Hand von dem Drücker der Salonthür niedersinken – ich meinte, in diesem Augenblick könne ich mich unmöglich von den zahllosen Kerzen des Kronleuchters da drin anstrahlen lassen. Ich trat in Charlottens Zimmer. Es war leer; auf dem aufgeschlagenen Flügel brannten zwei Lampen, und aus dem Salon, wo das Bild des schönen Lothar hing, scholl das Klirren der Theetassen und lautes Sprechen herüber. Noch stand ich und überlegte, wie ich meinen Eintritt am wenigsten auffallend bewerkstelligen könne, da rauschte es durch das Nebenzimmer, und Charlotte trat in Begleitung ihres Bruders herein.
„Die Prinzessin will mich singen hören,“ sagte sie zu mir und wühlte in den Noten. „Wie kommen Sie denn hierher, und wo haben Sie bis jetzt gesteckt, Kleine? – Man vermißt Sie drüben.“
„Ich war besorgt um meinen Vater und habe nach ihm gesehen – er ist unwohl –“
„Unwohl?“ lachte Dagobert leise auf – er saß bereits am Flügel und präludirte. „Ja, ja, ein schlimmes, ein sehr bedenkliches Unwohlsein! Ich habe vorhin im Club diese interessante Neuigkeit erfahren – man sprach von nichts Anderem, und durch die Stadt geht es im Jubel wie ein Lauffeuer, daß der Archäologieschwindel in den letzten Zügen liege. … Binnen Kurzem werden wir eine andere Mode haben, Charlotte! Gott sei Dank, daß man dies griechische, römische und ägyptische Kauderwelsch nicht mehr zu radebrechen braucht – es ist Einem sauer genug geworden!“ Er fuhr mit beiden Händen über die Tasten und erging sich in den brillantesten Läufern, während mir der Herzschlag stockte vor Bestürzung. – „Und in dem Augenblick, wo Ihr Papa im Sattel wankt und bügellos wird, erzählen Sie auch noch mit köstlicher Naivetät, daß er schnurstracks von den Juifs abstamme – das bricht ihm vollends das Genick!“
„Ja, das war eine kleine Dummheit, nehmen Sie mir’s nicht übel!“ schalt Charlotte und legte ein Notenheft auf das Pult des Flügels. „Ich verlange nicht, daß Sie geradezu lügen sollen, ich thue es ja auch nicht – aber in solchen Fällen hält man sich an die Mittelstraße – man schweigt.“
Dagobert begann die Introduction, und gleich darauf schlug Charlottens mächtige Stimme gegen die Wände.
Was war geschehen? Es hatte Alles so dunkel geklungen, was der schöne Tancred in nachlässig spöttischem Ton gesprochen und mit allen möglichen Läufern und Trillern auf dem Flügel begleitet hatte. Mit unsäglicher Bitterkeit sah ich nach dem Elenden hin, – „Archäologieschwindel“ hatte er das Wirken meines Vaters genannt, er, der sich als unterwürfiger „Famulus“ an den berühmten Mann herangedrängt und ihm oft genug beschwerlich gefallen war; wie manchmal hatte ich ihn über den zudringlichen, verständnißlosen Störer klagen hören! … So viel begriff ich, die Stellung meines Vaters bei Hofe war erschüttert, und nun wandte sich die feige Meute, die ihn einst umschmeichelt, kläffend gegen den Stürzenden. …
Die Prinzessin war noch nie so liebevoll und gütig gegen mich gewesen, als an diesem Abend; und doch konnte ich mich augenblicklich nicht überwinden, ihr wieder nahe zu kommen. Ich schlich in den anstoßenden Salon und setzte mich in eine dunkle Ecke, während Charlotte mit schmetternder Stimme weiter sang. … Von meinem Platz aus konnte ich den Theetisch sehr gut übersehen. Die Prinzessin saß ein wenig seitwärts unter Lothar’s Bild, jedenfalls nicht nach ihrem Wunsche, denn ich sah, wie sie sich verstohlen bemühte, einen vollen Anblick des Portraits zu gewinnen. Ihr Nachbar zur Linken war Herr Claudius. Ein einziger Blick auf dieses edle ruhige Gesicht besänftigte mein grollendes, geängstigtes Herz. … Welch ein Sonnenglanz lag heute auf seiner Stirn! … Der prachtvolle Soldatenkopf mit dem Blick voll Seele über ihm, vielleicht war er schöner in den Linien, überwältigender im feurigen Ausdruck – aber was hatte ihm all sein herausfordernder Soldatenmuth genützt? Den Kampf mit dem Leben hatte er doch nicht aufzunehmen vermocht – der frevelhafte Selbstzerstörer war untergegangen, während der stillgelassene Mann dort das halbentrissene Steuer mit einem kräftigen Aufraffen wieder erfaßt und sich selbst gerettet hatte. …
„Sie haben eine schöne Stimme, Fräulein Claudius,“ sagte die Prinzessin, als Charlotte nach beendigtem Gesang wieder an den Theetisch trat. „Besonders in der Mittellage erinnert sie mich lebhaft an den Mezzosopran meiner Schwester Sidonie. … Auch Ihr lebendig feuriger Vortrag mahnt mich an längstvergangene Zeiten – meine Schwester zog rauschende, wildoriginelle Weisen dem einfach elegischen Lied vor.“
„Wenn Euer Hoheit gnädigst erlauben wollen, dann möchte ich eine solche wildoriginelle Weise singen,“ versetzte Charlotte rasch. „Ich liebe die Tarantella – sie berauscht mich. … Già la luna –“
„Ich möchte Dich bitten, die Tarantella nicht zu singen, Charlotte,“ unterbrach sie Herr Claudius ruhig ernst – seine Stimme bebte nicht, aber eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht, und die Brauen falteten sich finster und drohend.
„Sie haben Recht, Herr Claudius,“ sagte die Prinzessin lebhaft. „Ich theile Ihre Antipathie. Diese Tarantella grassirte förmlich zu meiner Zeit – sie war das Paradepferd aller Sängerinnen von Fach, und auch Sidonie sang sie zu meinem Verdruß leidenschaftlich gern. Mir ist sie zu bacchantisch wild!“
Sie schob ihre Taste zurück und erhob sich. „Ich meine, wir gehen jetzt ein wenig auf Entdeckungen aus,“ sagte sie lächelnd. „Ich will mir einmal recht gründlich diese wundervoll alterthümliche Einrichtung ansehen – ist mir doch, als läse ich in einem uralten Buche, so oft ich den Blick erhebe. … Herr von Wismar, sehen Sie dort den prachtvollen Hirschkopf?“ – Sie deutete nach dem letzten Zimmer der langen Flucht. – „Das ist Etwas für Ihr Waidmannsherz!“
Der Kammerherr wirbelte davon und die Hofdame desgleichen – Ihre Hoheit wollte ja allein sein. … In diesem Augenblick wandte Charlotte den Kopf, so daß ich ihr voll in das Gesicht sehen konnte; beim Anblick dieser gespannten Züge, dieser flackernden Unruhe und Leidenschaft in den Augen, sagte ich mir sofort, daß das junge Mädchen noch an diesem Abend entschlossen auf ihr Ziel loszuschreiten gedenke. Jetzt freilich folgte sie an der Seite ihres Bruders pflichtschuldigst den zwei Hofschranzen nach dem von fürstlichem Finger gebieterisch bezeichneten Hirschkopf, während die Prinzessin allein in dem an den Salon stoßenden kleinen Zimmer zurückblieb und anscheinend mit großem Interesse die Leidensgeschichte der Genoveva auf der farbenprächtigen, alten Wolltapete betrachtete.
„Wisten Sie nicht, wo Fräulein von Sassen geblieben ist?“ fragte Herr Claudius hastig Fräulein Fliedner, die eben in das Zimmer eintreten wollte, wo ich mich aufhielt.
„Hier bin ich, Herr Claudius,“ sagte ich mich erhebend.
„Ach, meine kleine Heldin!“ rief er und trat rasch auf mich zu, ohne zu berücksichtigen, daß Anderen dieses ungewohnte Feuer in Stimme und Bewegungen auffallen müsse. … Fräulein Fliedner zog sich sofort wieder in den Salon zurück und machte sich am Theetisch zu schaffen.
„In die dunkelste Ecke haben Sie sich vergraben, heute, wo ich Haideprinzeßchen mit allem Licht, das das alte Haus zu geben vermag, überschütten möchte?“ sagte er mit gedämpfter Stimme.
„Wissen Sie auch, daß ich in diesen köstlichen Abendstunden eine Art Wiedergeburt feiere?. … Ich war noch sehr jung, als ich mich selbst dazu verurtheilte, in den bedächtigen Geleisen des Alters zu wandeln. Rauh und unerbittlich habe ich die hochaufspringenden Quellen der Jugend in meinem Herzen niedergehalten – ich wollte nicht mehr jung sein. … und nun, wo ich es in der That nicht mehr sein sollte, brechen sie unaufhaltsam hervor und verlangen ihr Recht, ihr verjährtes und verfallenes Recht! … und ich gebe mich ihnen willenlos hin – ich bin unaussprechlich glücklich, mich wieder jung zu fühlen, als hätten dieses köstliche Kleinod in meiner Brust weder die Jahre, noch schlimme Erfahrungen berührt – ist das nicht thöricht von ‚dem alten, uralten Mann‘, den Sie zuerst in der Haide gesehen?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_830.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)