Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
|
Sturm aus dem Neste gestoßen hat!“ lachte Dagobert, der ihm folgte und sich wankend am Thürpfosten festhielt.
Ich ließ rasch meine Arme von der Wand niedersinken und wandte das Gesicht weg – das war das Lachen, das mich in der Haide unter das Dach des Dierkhofes gejagt hatte.
„Kommen Sie in das Vorderhaus zurück; Sie erreichen die Karolinenlust nicht mehr,“ sagte Herr Claudius sanft zu mir.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nun, dann will ich mit Ihnen gehen – unbeschützt können Sie sich unmöglich auf Ihren kleinen Füßen erhalten.“
„Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt’ ich Dich!“ klang es durch meine aufgeregte Mädchenseele – nein, ich wollte nicht! mochten sie doch Beide gehen; den dort mit der Falschheit hinter der Stirne verabscheute ich, und vor Dem, der so geduldig und sanft zu mir sprach, fühlte ich tiefe Scham und Furcht.
„Ich brauche keinen Mantel, der mich beschützt – ich will mich allein durchkämpfen,“ sagte ich gepreßt und sah zu ihm auf – aber durch funkelnde, zitternde Thränen, die sich bei aller Anstrengung nicht niederschlucken ließen. Meine Zähne schlugen wie im Frost zusammen.
Herr Claudius sah mich an, während Dagobert abermals auflachte; eine unerklärliche Bewegung ging durch seine Züge. „Sie sind krank,“ sagte er, sich zu mir herabbückend, leiser. „Ich darf Sie nun erst recht nicht allein lassen. Seien Sie gut und gehen Sie mit mir.“
Diese nicht zu erschöpfende Geduld und Nachsicht mit dem kleinen unwürdigen Geschöpf, das er verachten mußte, und das bei alledem sich auch noch trotzig verhielt, brachen meinen Widerstand; zudem mäßigte sich das Toben in den Lüften für einen Moment, ich konnte mich recht gut allein auf den Füßen halten und verließ meinen Platz.
Noch stand Dagobert an der Thür. Jedenfalls hatten die wenigen Worte, die Herr Claudius leise zu mir gesprochen, und meine plötzliche Bereitwilligkeit, mitzugehen, sein Mißtrauen erweckt – er legte bedeutsam den Finger auf den Mund und hob in finsterer Drohung schüttelnd die Rechte. Dann trat er in den Hof zurück und schlug die Thüre zu. … Unnöthige Mahnung! Ueber meine Lippen kam kein Wort – erst gelogen und dann verrathen – Herr Claudius hätte mich selbst verabscheuen müssen, und wenn ihm auch meine Mittheilungen unberechenbar nützten. … Aber ich mußte zugleich tief niedergeschlagen an Heinzens schauerliche Erzählungen von verkauften Seelen denken – ich war auch so eine arme Seele, die ängstlich hin- und herflatterte und doch nicht weiter konnte.
Das vordere Glashaus erreichten wir im Sturmschritt, nicht einmal war ich genöthigt, mich unter den unmittelbaren Schutz meines Begleiters zu flüchten – mit hochaufgeblähten Kleidern, aber immer mit den Fußspitzen auf dem Boden flog ich neben ihm her. … Da fuhr schauerlich lang anhaltend, und als suche es unruhig einen Ausweg, ein glänzend rosenfarbenes Licht über die rauschende Pappelwand hin, beinahe zugleich krachte ein betäubender Schlag durch die Lüfte, und klatschend und trommelnd flogen die ersten Regentropfen gegen die Glaswände des Hauses. … Wir traten schleunigst in die Thüre, mitten unter die hochstrebenden, fremdartigen Pflanzengebilde hinein, die, für den tobenden Kampf unerreichbar, still und unbewegt dreinsahen. Ich blickte seitwärts an meinem schweigenden Begleiter empor – so isolirt stand auch er inmitten des Menschentumultes – geschah das wirklich, weil er düstere Geheimnisse in der Brust verschließen mußte? …
Er hatte meinen Blick aufgefangen und sah mir prüfend in das Gesicht. „Die rasche Bewegung hat Ihre Lippen wieder gefärbt – ist Ihnen besser?“ fragte er.
„Ich bin nicht krank,“ erwiderte ich seitwärts blickend.
„Aber tief erregt und in den Nerven erschüttert,“ ergänzte er. „Kein Wunder, es ist das Klimafieber – die junge Seele tritt nie ungestraft aus der stillen, versuchungslosen Einsamkeit in die laute Welt.“
Ich verstand ihn recht gut – wie mild beurtheilte er mein Vergehen! Gestern noch hätte ich denken müssen! „Weil er selbst die Welt belügt“ – jetzt konnte ich das nicht mehr!
„Ich möchte Ihnen so gern diesen Uebergang erleichtern,“ fuhr er fort. „Vorhin, droben im Salon, habe ich mir selbst sagen müssen, daß ich das nur kann, wenn ich Sie schleunigst fortbringe aus meinem Hause, aber ich bin ja nicht unfehlbar in meinem Urtheil, ich kann auch schwer irren bezüglich der Hände, in die ich Ihr Wohl und Wehe lege –“
„Ich gehe auch nicht,“ unterbrach ich ihn. „Glauben Sie denn, ich hätte auch nur eine Stunde nach der Abschiedsqual hier ausgehalten? Zu Fuße wäre ich Ilse nachgelaufen, bis in die Haide, wenn ich nicht – bei meinem Vater bleiben müßte. … Aber ich weiß recht gut, daß das Kind zum Vater gehört; und er braucht mich – so kindisch und unwissend ich auch bin, er hat sich doch schon an mich gewöhnt.“
Er sah mich überrascht an. „Sie haben mehr Kraft des Willens, als ich glaubte – es gehört schon viel dazu, ein in freier Ungebundenheit entwickeltes Naturell unter die Pflicht zu zwingen. … Gut denn, auch ich finde den Gedanken unausführbar; er kam mir ja auch nur in einem bösen Augenblick voll niederschlagender Eindrücke, in dem Augenblick, wo ich Sie straucheln sah. …“
Bei diesen Worten wandte er seine Augen weg und brachte eine fest gegen die Scheiben gedrückte prächtige exotische Blüthenglocke so vorsichtig in eine andere Lage, als fülle diese Beschäftigung seine ganze Seele aus. Er schien nicht sehen zu wollen, wie ich die Hände vor das Gesicht schlug, um die Gluth der Beschämung zu verbergen.
„Sie haben kein Vertrauen zu mir, das heißt, es ist systematisch in Ihnen zerstört worden, denn Ihr Gemüth hat sicher auch nicht das geringste Mißtrauen gegen Welt und Menschen mit hierhergebracht,“ sagte er mit tiefem Ernst weiter. „Ich habe es schwer, Ihnen gegenüber – die sehr undankbare Rolle des getreuen Eckhardt ist mir zugefallen, der die Menschen unermüdlich vor der schönen Sünde warnt und dafür schwerlich – geliebt wird. … Aber das soll mich nicht abhalten, mit dieser Stunde mein Amt anzutreten. Vielleicht, wenn sich Ihr Ausblick in das Weltgetriebe erweitert hat, vielleicht dann werden Sie einsehen, daß meine Hand eine treumeinende, so eine Art Elternhand gewesen ist, die sich schützend um die Tischecken legt, damit sich das Kind die Stirn nicht wund stoße – und diese Erkenntniß soll mir genügen. … Zählen Sie doch nicht gar so emsig die Sandkörner da zu Ihren Füßen!“ unterbrach er sich plötzlich selbst. „Wollen Sie nicht einmal aufsehen? Ich möchte wissen, was Sie denken.“
„Ich denke, Sie werden mir den Verkehr mit Charlotte verbieten,“ versetzte ich rasch und hob den Kopf.
„Nicht ganz – unter meinen Augen, oder in Fräulein Fliedner’s Gegenwart sollen Sie mit ihr verkehren, so oft Sie wollen. Aber ich bitte Sie ernstlich, das Alleinsein mit ihr zu vermeiden. Sie hat, wie ich Ihnen schon gesagt habe, den Kopf voll ungesunder Anschauungen, und ich darf es nicht leiden, daß Sie durch derartige Hirngespinste angesteckt werden. … Wie rasch gerade die unbefangene reine Menschenseele einem solchen Einflusse verfällt, das habe ich heute mit ansehen müssen. … Geben Sie mir das Versprechen, daß Sie mir folgen wollen!“ Er vergaß sich und streckte mir die Hand hin.
„Ich kann das nicht!“ stieß ich heraus, während er erbleichend und in jähem Schrecken die Hand zurückzog. „Mir wird heiß und angst hier in der schwülen eingeschlossenen Blumenlust“ – und wirklich schlug mir das Herz zum Zerspringen. „Sehen Sie, der Regen läßt nach – ich habe ja Baumschutz bis zur Karolinenlust – erlauben Sie, daß ich hinausgehe!“
Mit diesen Worten stand ich schon draußen und stürmte am Flusse hin; das Unwetter raste stärker als je, im Nu war ich von Wasserströmen überschüttet. Ich hielt schützend die Hand über die Augen, sonst wäre ich blindlings gegen die Bäume oder in den Fluß gerannt, und lief, bis ich athemlos die Halle der Karolinenlust erreichte. … Gott sei Dank, daß ich diese gelassene Stimme nicht mehr hörte, die mich trotz alledem berührte, als klopfe ein warmes bewegtes Herz hindurch.
Ich warf meine durchnäßte Muslinhülle ab, schlüpfte in mein verhöhntes schwarzes Kleid und stieß die Läden auf. Ich war mutterseelenallein in dem weiten Hause, nur draußen schrie und krakelte das Geflügel durcheinander, das vor dem rasch hereinbrechenden Gewitter in die Halle retirirt war. … In einer Fensternische kauernd, löste ich mit scheuen Fingern die Perlen von meinem Halse. Entsetzlich lebendig tauchten die halbgebrochenen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_780.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)