Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
|
Das Mondlicht lag endlich in breitem, hellem Streifen auf den herabgießenden Strudeln und glitzerte spukhaft in phantastischem Spiel darüber hin. Plötzlich erhob sich das Wunder der Wunder: in zarteren, schattenhafteren, aber nicht minder schönen Farbentönen erglänzte jener Doppelbogen, den wir am Tage schon im Sonnenlicht bewundert und der von seinem Ursprung, dem keuschen Kuß der Luna, seinen Namen trägt. Wo reichte die Sprache aber zu würdigen Schilderung dieses zauberischen und erhabenen Anblicks aus, der einmal nur im Monat bei Vollmond und ganz klarem Himmel – auf diesem Punkt der Erde allein – dem verstummten Beschauer entgegentritt!
Lange noch kniete ich in jener Nacht auf meinem Lager und starrte hinaus auf die kochenden Wasserschlünde, die an meinem Fenster herabgossen, bis ihr grausig schönes Wiegenlied mich in den Schlaf gesungen.
Den nächsten Morgen sollten wir unserer Sehnsucht nach dem Anblick des Hufeisenfalls Genüge thun. Durch einen prachtvollen Laubhain, an Abgründen vorbei, führte der Weg immer bergauf über Goat-Island (Gemseninsel) fort, bis ihm durch die Fälle die Grenze gesteckt wurde. – Ueberall tritt Einem der Mangel der Culturpflege an diesem vielbesuchten Platz auffällig entgegen; nirgends ein geebneter Pfad; höchstens ein schlaff gespannter Strick, der an eine besonders gefährliche Stelle mahnen soll. Ueber Felsgeröll und durch dichtverschlungene Rankengewächse hatte der Fuß sich den Weg zu bahnen, bis er die Brücke endlich erreichte, von der ein Steg zum Thurm führt. Aus den gurgelnden Wassern und zwischen Felsriffe eingekeilt taucht in gleicher Linie mit dem Gipfel des Hufeisenfalls, wie eine Oase, das rundliche Gebäude fünfundvierzig Fuß hoch empor. Seine Spitze umgiebt eine Galerie mit eisernem Gitter. Der Schwindel, der Furchtsame und Nervöse hier auf der Piazza oft ergreift und zu dem Glauben veranlaßt, der Thurm erbebe unter dem Anprall der Fluthen, blieb uns glücklich fern und wir konnten uns ungehindert dem Vollgenuß des Anschauens hingeben, dem nirgends und auf keinem Punkt solche Genüge geschieht als hier, wo man in gleicher Höhe mit dem Anfang des imposantesten Falles steht und gleichzeitig im Rundblick die schöne Scenerie der beiderseitigen Ufer und die Tiefe zu Füßen des Thurmes beherrschen konnte. Seine Breitenausdehnung beträgt, in der Form eines Hufeisens, wie schon erwähnt, hundertvierundvierzig Ruthen; was diesem Fall aber gerade einen so bizarren Reiz leiht, ist, daß er, in der Mitte in ruhigerer Schönheit, ein glasheller breiter Strom, smaragdgrün über die Felsblöcke fluthet, während er wieder zu beiden Seiten im kochenden Schneeschaum unter wüthendem Getöse, in die wie mit Rauch und Dampf gefüllten Schlünde herabstürzt. Auf diesem schwebend breitete sich unter uns ein magischer Bogen, der dieses gesegnete Thal wie im ewigen Friedenszeichen umspannt halten will.
Nachdem wir uns satt, oder eigentlich nicht satt gesehen, kehrten wir heim zum Diner und schlugen nach Tische, trotz heftigem Protestiren meines Begleiters den Weg zu dem gefährlichen Durchpaß, d. h. zu der Stelle am Fuße der Katarakte ein, wo man etwa dreißig Yards hinter die riesenhafte Wasserschicht der in gerader Linie herabstürzenden Fluthen vordringen kann und wo sich eine Höhle von etwa dreihundert Fuß Länge gebildet hat. Auf der Höhe, auf halbem Wege zu den Hufeisenfällen, zwischen diesen und dem amerikanischen Falle, liegt das sogenannte Costümhaus, das die Pforte eben zu der „Höhle der Winde“ und zu der gefahrvollen Reise unterhalb dieses Falles bildet.
Ein menschliches Ungeheuer in einer – mir schien es – maskeradenartigen Vermummung maß meine kleine zarte Gestalt mit prüfendem Blick, als ich dort eintretend ihm meinen Wunsch hinsichtlich dieser Tour zu erkennen gab.
„Es ist sehr beschwerlich – Damen unternehmen es selten,“ remonstrirte er zögernd in englischer Sprache, und mein Begleiter fiel ihm mit einem freudig zustimmenden „Nicht wahr, auch gefahrvoll?“ in die Rede.
„Hm, es ist überall gefährlich, wo man sich nicht in Acht nimmt,“ murmelte er unentschieden und schwankend zwischen dem lockenden Tone meiner raschelnden vier Papierdollars und der Stimme des Gewissens. „Sichere Führer – ich bin auch einer – bekommen Sie mit und Gesellschaft finden Sie auch, aber wenn Sie nicht vielen Muth haben, lassen Sie’s lieber bleiben, es ist heute gerade sehr stürmisch!“
Mein Entschluß stand fest, ich wollte den Becher, selbst auf die Gefahr des Lebens, bis auf die Neige leeren. Man wies mir ein Zimmerchen an, in dem ich „Toilette“ machen sollte, und bei der drolligen Metamorphose diente mir ein allerliebstes gazellenäugiges Indianermädchen zur dienstwilligen Zofe. Sie brachte mir ein Eisenkästchen, in dem ich meine Börse und Werthsachen deponirte, legte ein Vorhängeschloß davor und frug mich schüchtern, ob ich Adressen oder irgend ein Vermächtniß dem „Unternehmer“ mit dem Kästchen zu übergeben wünschte. Das Zurückbleiben meines Reisegefährten, der sich zu schwach oder zu alt fühlen mochte, machte diese Vorsichtsmaßregel für alle „Eventualitäten“ bei mir überflüssig; das Erinnern an dieselben dämpfte aber dennoch etwas die tolle Laune, in der ich mein sonderbar herausstaffirtes Ich im Spiegel bewunderte. Ein Schwimmcostüm, bestehend aus kurzem Kittel und Pantalon von zottigem brandrothen Flanell und mit einem dicken Strick um die Taille gegürtet, darüber ein kleines Rittermäntelchen von schwarzem getheerten Wachsleinen, an das eine Capote, das Gesicht bis fast zur Nase fest umgebend, von gleichem Stoffe sich anschloß, abscheuliche graue Wollsocken und Filzsandalen, die wieder mit dünnen Stricken den Fuß umwunden hielten – das war die vorschriftsmäßige Hoftoilette, in der man dem Berggeist der „Höhle der Winde“ seine devote Aufwartung zu machen hatte.
Mit hörbarem Herzklopfen trat ich zu den drei Herren und den beiden Führern hinaus, die die Reise in die Tiefe mit mir wagen wollten. Wir lachten Alle hell auf in wiedergekehrtem Humor, als wir, die eben noch völlig Fremden, in unserm Reisecostüm uns gegenseitig anstaunten, und flogen, trotz der Abmahnung der Führer, die uns vor verfrühter Uebermüdung und Erhitzung warnten, die vielen, vielen Stufen bis zu einem Thürmchen hinab, das noch dem Publicum zur Benutzung freigegeben war.
Auf der Wendeltreppe im Thürmchen begegneten wir einem eben zurückkehrenden Touristen und seinem Führer. Er hätte als abschreckendes Beispiel dienen müssen, wenn Einem von uns der moralische Muth zur Umkehr zu Gebote gestanden; Jeder aber fürchtete das Spottlächeln des Andern. Der Mann sah gräßlich aus, mit wogender Brust, keuchendem Athem; aus den zusammengeklebten Haarstreifen, die ihm unordentlich über die Stirn hingen – die Capote war vom Kopfe zurückgeglitten –, triefte es unaufhörlich Gesicht und Bart entlang; aus seinen Kleidern, von seinen Händen, aus seinen Schuhen goß es in Bächen herab, und er selbst bot ein zwar tragikomisches, aber auch jammervolles Bild totaler Erschöpfung. Wir schritten tapfer vorwärts, klirrend fiel hinter uns die eiserne Pforte in’s Schloß, die uns von der übrigen Welt abschnitt.
„Will Einer von den Herrschaften doch lieber zurückbleiben? Noch ist es Zeit!“
Der Frage des Führers – der den Pförtner spielte und unsere Regenmäntel in dem kleinen Wachthäuschen aufhing – antwortete ein beklommenes Schweigen. Langsamer als vorher stiegen wir den sandigen Abhang hinab und jetzt – jetzt kam die erste Taufe! Donnerartig, mit wahrem Wuthgebrüll stürzte es dreihundert Fuß hoch über und von oben über unsere Köpfe fort. In wildem Bogen stürzte der Fall über uns hin in die Tiefe. Das eisige Sturzbad, das der Wind prasselnd auf uns herabgoß, nahm nach wenigen Minuten schon Athem und Besinnung. Mit wogender Brust nach Luft ringend, erreichten wir endlich das Ende des Hügels; an diesen schloß sich ein schwanker hölzerner Steg, kaum breit genug für den Passirenden, den des Führers Faust am Strickgürtel gepackt hielt. Die gebrechliche Brücke schwankte und bebte über der reißenden Fluth, die sie glatt und schlüpfrig wie ein Parquet gespült hatte. Von der einen Seite nur schützte ein rundes Holzgeländer (eigentlich nur ein glattgeschälter langlaufender Baumstamm) gegen den Sturz in die grause Tiefe, und an ihm konnte die gleitende Hand dem vorsichtig tappenden Fuße zur Stütze dienen.
Unsäglich mühsam ging es vorwärts auf der schlüpfrigen Bahn. In den Ohren begann es zu summen; schwarze Kreise zog der Schwindel vor unsere Augen. Das Sturzbad machte erst blind, dann taub, dann besinnungslos – nun trieb auch der Sturm im „Käfig der Winde“ sein gefährliches Spiel und schleuderte uns hin und her. Der Fuß hielt nur mühsam Stand in der eiskalten Douche, die über ihn hingurgelte. Bedrohlich hingen über unseren Köpfen, wie von der Luft getragen, vorspringende
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_706.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)