Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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das eigentliche Sessenheimer Pfarrhaus steht schon längst nicht mehr; vor fünfunddreißig Jahren bereits mußte dasselbe nothgedrungen abgebrochen und durch ein neues ersetzt werden. Das erfahren gewöhnlich hier erst, und nie ohne laut ihr Leidwesen kund zu thun, die werthen Gäste, die bei mir einbrechen, um in der Nähe sich die Stätten anzuschauen, die in der Ferne ihnen so lieb geworden. Mir aber – das will ich dem lieben Leser nur ehrlich gestehen – mir, dem dermaligen Insassen des jetzigen so wohnlichen Hauses, thut diese Veränderung nicht im mindesten leid, auch habe ich es bis jetzt noch niemals über’s Herz bringen können, aufrichtig in diese wehmüthige Klage (die ich jedoch ganz und gar verstehe und auch gebührend achte) einzustimmen. Hat doch mein Vorgänger im Amte, vor hundert Jahren schon, fort und fort Beschwerde geführt über sein altes, baufälliges, hölzernes Häuschen, und ein Mal um das andere Pläne und Risse, bekanntlich auch durch Goethe selbst, zu einem Neubau anfertigen lassen. Dank jedoch der freundlichen Mitwirkung meines kunstfertigen Amtsbruders, Pfarrer August Lambs von Bischweiler, und meines Schwagers, des Kreiswegbaumeisters August Bauer von Hagenau, bin ich in den Stand gesetzt, dem verehrten Leser das alte sowohl, wie das neue Haus im Bilde vor Augen zu stellen, und diese, wie ich hoffe, nicht unwillkommene Zugabe wird es Jedermann ermöglichen, Vergleiche anzustellen zwischen Sonst und Jetzt, und sich einen richtigen Begriff zu machen von den Localitäten, wie sie gewesen und heute sind. Das Eckzimmer rechts im obern Stockwerk des Hauses, dessen Holzwerk damals allenthalben zu Tage trat, war das Goethezimmer, das untere links die Wohnstube.
Nun aber, nachdem wir das Häuschen von 1770 betrachtet und dessen Umgebung in Augenschein genommen, wollen wir eintreten und nähere Bekanntschaft machen mit der dasselbe bewohnenden Pfarrfamilie.
Der Herr des Hauses, der Pfarrer des ausgedehnten, um jene Zeit sechs Gemeinden umfassenden und mehr denn tausendfünfhundert Protestanten zählenden Kirchspiels, war der damals in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre stehende, am 11. April 1717 in Straßburg geborene Johann Jacob Brion. Gerade zehn Jahre vorher, um Martini 1760, war er von der etwas über zwei Stunden von hier entfernten Pfarrei Niederrödern nach Sessenheim befördert worden. Klein von Statur, freundlich in seinem Aeußern, etwas orthodox in seinen theologischen Ansichten (man denke an sein Gespräch mit Goethe über die Schnaken, „die im Paradiese nur angenehm gesummt und nicht gestochen“), durch Gelehrsamkeit ebensowenig ausgezeichnet wie durch besondere Geistesgabe, lag er, ohne Geräusch und Aufsehen zu machen, seinem Berufe ob, und hielt wohl ebenso pflichtgemäß die Gottesdienste ab, als er sauber und regelmäßig die von ihm verrichteten Casualhandlungen in die noch vorhandenen Kirchenbücher einschrieb. Was er als Prediger gewesen und als Seelsorger und Pfarrer gewirkt, darüber hat sich in der Gemeinde selbst keine mündliche Kunde erhalten und fortgepflanzt. Dieser Umstand aber kann uns nicht berechtigen, ein ungünstiges Urtheil über ihn zu fällen; denn die Pfarrer, welche am lautesten und am längsten von sich reden machen, sind auch heute noch, wie männiglich bekannt, nicht gerade die, welche am nachhaltigsten einen wohlthätigen und segensreichen Einfluß auf ihre Gemeindeglieder ausüben. Leutselig, gutmüthig und wohlthätig muß er jedenfalls in hohem Grade gewesen sein. Die Großmutter eines hiesigen Bürgers erzählte oft: „Mehr denn einmal hat er seinen Rock hergegeben, und wenn seine Weibsleut’ nicht gewesen wären, so hätte er auch noch das Hemd ausgezogen und verschenkt.“ „Sorget nicht für den andern Morgen“ – dies war der Wahlspruch, den er Frau und Töchtern entgegenzuhalten pflegte, wenn sie seiner allzugroßen Freigebigkeit hemmend in den Weg zu treten suchten.
Daß Vater Brion auch gerne Besuche bei sich sah und Gäste ihm allezeit höchst willkommen waren, dürfen wir nach mannigfachen Angaben wohl behaupten; und er konnte seine ihm, wie es scheint, zum Herzensbedürfniß gewordene Gastfreundschaft um so leichter üben, als seine Stellung in finanzieller Hinsicht eine günstige gewesen sein muß; denn er war nicht blos Nutznießer des beträchtlichen, aus etwa hundertsechszig Morgen (zweiunddreißig Hectares) bestehenden Pfarrguts, sondern er hatte auch noch den Feld- und Blut-Zehnten zu beziehen. Die sehr geräumige Pfarrscheune, welche noch an derselben Stelle und in demselben Zustande wie vor hundert Jahren sich befindet, und in welcher Goethe bekanntlich den mißlungenen Versuch machte, die pfarrherrliche Kutsche „mit Blumen und Zierrathen zu staffiren“, hieß nach der Aussage älterer hiesiger Personen, auch weit später noch, die „Zehnerscheuer“. Auch fanden sich Bekannte und Unbekannte im gastlich geöffneten Sessenheimer Pfarrhaus jederzeit gern und zahlreich ein; zu den Verwandten und Freunden aus dem Badischen und dem Elsaß gesellten sich mehr denn einmal Studenten von Straßburg und Officiere von Fort Louis, einer 1689 von Vauban auf einer anderthalb Stunden von hier entfernten Rheininsel erbauten, 1793 von den Oesterreichern unter Lauer zerstörten kleinen Festung – heute aber ein unbedeutendes armseliges Dörfchen. Dieses so sehr gesellige und vielbewegte Pfarrhausleben hat hie und da schon mannigfachen Anstoß erregt und zu allerlei nicht immer wohlwollenden Bemerkungen Anlaß gegeben. Wir dürfen dasselbe aber nicht nach unsern heutigen Schicklichkeitsansichten allein beurtheilen, sondern müssen billig vielmehr die andersartigen Verhältnisse und gesellschaftlichen Zustände der damaligen Zeiten in Anschlag bringen.
Als würdige Pfarrfrau und treffliche Hausmutter kommt uns wohlwollend Magdalena Salomea Schoell entgegen, welche, am 12. März 1724 geboren, in jener Zeit sechsundvierzig Jahre zählte. Sie war wahrscheinlich eine Badenserin, wenn nicht der Geburt, so doch der Abstammung nach. Viele Mitglieder ihrer Familie bewohnten die Markgrafschaft Baden-Durlach, gehörten dem höhern Beamtenstande an und blieben in fortwährendem Verkehr mit den Sessenheimer Pfarrersleuten, welchen sie oft Besuche machten und theilnehmend bei frohen und traurigen Gelegenheiten zur Seite standen. Frau Brion war groß und hager von Gestalt, „doch nicht mehr, als solchen Jahren geziemt“, aber ihre Gesichtszüge zeugten auch im vorgerückten Lebensalter noch von früherer Schönheit, „sie hatte vom Rücken her noch ein ganz jugendliches angenehmes Ansehen.“ Ihr Benehmen war fein, tactvoll und einladend und trug an sich den Stempel einer guten und sorgfältigen Erziehung. „Man konnte sie nicht ansehen, ohne sie zugleich zu ehren und zu scheuen,“ so sagt Einer, der sie wohl gekannt und dem wir vollen Glauben schenken dürfen. Sie ist anderthalb Jahre vor ihrem Gatten im Jahre 1786 von Gott aus diesem Leben abgerufen worden und findet sich der Sterbefall von Pfarrer Brion selbst im Kirchenbuche eingetragen.
Beide Ehegatten ruhen auf dem die Kirche umgebenden, aber schon längst nicht mehr benutzten Gottesacker; ihre Grabsteine sind noch vorhanden und liegen dicht an der Rückseite der Kirche. Auf dem einen Steine liest man:
Sey still und weine,
Christ und Menschenfreund!
Hier ruhen die Gebeine
Eines Mannes, der vereint
Tugend pries und Tugend übte,
Gott in seinem Leben liebte.
Mit Ausnahme der wohlerhaltenen Namen Magdalena Salomea Schoellin ist die Inschrift des zweiten Steines völlig verwischt und unleserlich geworden.
Von den Kindern des Hauses haben wir nur wenig zu berichten, und auch dies Wenige wäre für uns von keiner Bedeutung und würde das Interesse des Lesers nur in geringem Grade in Anspruch nehmen, wenn nicht sympathisch, so Vieler Herzen der Einen Tochter entgegenschlügen, die das Sessenheimer Pfarrhaus und Alles, was mit demselben zusammenhängt, so weithin berühmt gemacht.
Die älteste Tochter des Pfarrer Brion’schen Ehepaares hatte das elterliche Haus seit mehreren Jahren verlassen, als Goethe seinen ersten Besuch in Sessenheim machte und wird ihrer auch in dessen Memoiren nicht gedacht. Sie hieß Catharina Magdalena und starb als Gattin des Pfarrers Christian Bernhard Gockel in Emmerdingen.
Die zweite Tochter war Maria Salomea, die spätere Gattin des Pfarrers Gottfried Marx zu Diersburg im Badischen, in „Wahrheit und Dichtung“ mit Anspielung auf
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_454.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)