verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Volkner. Das Zimmer war in alterthümlichem Style möblirt; vom Holzgetäfel hoben sich schwerfällig schwere dunkle Geräthe von Nußholz ab. An den Wänden hingen vier Bilder von Großeltern, zwei Frauenbilder in kurzleibigen weißen, dünnen Kleidchen, ihre braunen Locken aus einem röthlichen, braunwolkigen Himmel herausschüttelnd, und zwei Männerportraits in Stutzperrücken, gesiegelte Briefe in Händen. In einer Ecke des Zimmers stand der Schreibtisch des Verstorbenen, dessen Schubfächer sämmtlich geöffnet waren. Die kleinere Hälfte seines Inhalts, Acten und Briefschaften, lag wohlsortirt auf dem Tische ausgebreitet, während ein guter Theil desselben in einem wirren Haufen, zerknittert oder zerrissen, auf dem Fußboden lag. Die zerstreuten Papiere waren auch das einzige Unordentliche in der altväterischen stricten Ordnung des Zimmers. Der alte Vormund hatte soeben mit Marie Kärner die Durchsicht der Papiere des Verstorbenen beendigt, und das Unnützgewordene zum Flammentode verurtheilt.
Die beiden großen, altväterischen Fenster, welche in den Garten führten, standen weit offen, und schlanke Acazienzweige vom hellsten Grün wehten manchmal fächelnd herein. Weiße Schmetterlinge gaukelten manchmal plötzlich aus dem Blumengrunde auf, als habe der leichte Sommerwind eine Blüthe vom Stiele gelöst. Der Fahrweg zum Hausthor des Landhauses führte knapp am Fenster hin zum freien Terrassenplatze, und die vielen Furchen, die der Sandweg zeigte, rührten noch von den Wagen des Leichenbegängnisses her.
Marie Kärner trug ein schwarzes, einfaches Trauerkleidchen, das vom Halse an in einen schwarzen Spitzenkragen abfiel, und das dunkle Gewand hob ihr lilienweißes Gesicht, welches nur um die thränenmüden Augenlider einen Rosenschimmer hatte, und ihr goldfarbenes, schlichtgescheiteltes Haar noch lichter und blässer hervor.
Das junge, liebliche Mädchengesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck behalten, trotz der Mattigkeit der Trauer. Das einsame Leben ihrer Jugend, die Abgeschlossenheit ihres Lebens und die intime Berührung mit dem ernsten, eigenthümlichen Wesen ihres verstorbenen Vaters hatte eine scharfe Linie zwischen ihre feinen Brauen gezeichnet, welche ihrer sonst so weichen Schönheit einen seltsamen, unwiderstehlich interessirenden Ausdruck verlieh.
Der alte Vormund, in seinem braunen Stadtrock, mit dem dünnen, sorgsam über das fast kahle Haupt gelegten Silberhaare, hatte seine Hand auf der Lehne ihres Stuhles liegen, und die Acazienlichter spielten über seinen stattlichen Körper, wie er sagte: „Sie sind also fest entschlossen, Marie, das Landhaus zu verkaufen, sammt Allem, was es enthält, und diesen Ort zu verlassen?“
„Ich bin’s,“ sagte das Mädchen, und der bestimmte Zug zwischen ihren Augenbrauen trat stärker hervor. „Nicht wahr, Vormund, und Sie geben mir Recht? Ich habe mein ganzes Leben hindurch an der Seite meines Vaters verbracht, mit ihm allein. Ich tauge also nicht für die Gesellschaft und die Welt. Aber ich vermöchte auch nicht allein zu wohnen. Es wäre erstens nicht anständig, und zweitens würde ich zu traurig und verzagt werden.“
„Sie wollen auch nicht in die Welt treten? Zu uns? Ich weiß, Sie sind zur Einsamkeit gezwungen worden, Marie – durch die Liebe zu Ihrem Vater; er mied die Menschen. Ich und er, wir sind Schulfreunde gewesen; aber seit seiner Rückkunft aus dem Fremdlande hatten unsere beiden Häuser kaum zehnmal Verkehr mit einander. Erst als er den Tod nahen fühlte, ließ er mich wieder rufen und übergab mir die Sorge für seine Tochter – für Sie, Marie. Ich begreife es, daß Sie nicht bleiben wollen in dem verlassenen Hause, wo Alles Sie erinnern muß an Ihren Vater, den einzigen Freund Ihres einsamen Lebens…“
Marie Kärner weinte nicht, als der alte Mann diese Worte sprach; sie neigte nur das Haupt und ein tieferer Schatten lag zwischen ihren schönen Brauen.
Der alte Mann fuhr fort: „Ich habe also dieses Haus zum Verkauf ausgeschrieben. Die Möbel und Einrichtungen habe ich aber abgesondert zur Versteigerung ausgeschrieben, zum Vortheil des Unternehmens. Denn Jeder, welcher das Haus an sich bringt, wird die Möbel unbrauchbar finden, da ein so hübsches Schlößchen auch comfortabel eingerichtet sein muß, während die Landleute der Umgegend die solide, altväterliche Einrichtung gern an sich bringen werden. Das Alles ist also angebahnt, und es steht Ihnen nun frei, Marie, in die Welt zu treten noch inmitten Ihrer schönsten Jugendzeit, deren erste Hälfte Sie Ihrer Kindespflicht geopfert haben. Kommen Sie also zu uns. Ich und meine alte Frau wollen Ihnen gern eine Heimath bieten – wir thäten es auch, wenn Sie keine reiche Erbin wären. Und wir wollen gern Ihre Eltern spielen, um wieder jung zu werden; wir wollen die kleine große Welt des Städtchens wieder besuchen, die Concerte im Herbst, das Theater im Winter und die Gärten im Sommer. Wir haben das miteinander besprochen, ich und meine kleine alte Frau; denn wir möchten gern, daß Sie Ihren Verlust vergäßen, dann, daß Sie endlich das Leben genießen möchten, und zuletzt, daß wir selber ein wenig glauben könnten, wir hätten noch ein Kind.“
Marie hielt die Hand des Greises plötzlich fester als früher in der ihrigen, und ehe er sich’s versah, drückte sie einen Kuß auf dieselbe. Sie sagte kein Wort dabei und auch nicht nachher. Er wehrte ihr und sagte verlegene, väterliche Worte. Darauf sagte sie: „Nein, nein, ich will Ihnen nur sagen und zeigen, mein theurer, väterlicher Freund, daß ich Ihre Güte im tiefsten Herzen empfinde! Aber ich liebe das Leben mit der Welt nicht. Und – ich kann hier nicht bleiben.“ Das ernste schöne Mädchengesicht schaute jäh, wie verschmachtend auf. „Ja, ich kann hier nicht bleiben. Ich würde zu traurig werden hier. Sie wollen fragen, was ich denn eigentlich beginnen will, wenn die Einsamkeit und die große Gesellschaft mich gleichermaßen abstoßen. Aber ich habe das Ziel – mein Ziel gefunden, Herr Volkner, schon am Krankenlager meines seligen Papa’s: ich will nützen. Sie wissen, mein Vater hat mir all seine reichen Kenntnisse mitgetheilt: ich kann Französisch, Englisch, Italienisch, ich spiele das Piano und habe Wissen in den Elementarkenntnissen des Frauenhorizonts, der Erdkunde, der Geschichte, der Himmelskunde. Ich will Lehrerin werden, und zwar in einem jener klosterähnlichen Institute der Schweiz, wo die Lehrerin das nonnenhafte Leben mit der immer beruhigenden und beseligenden Pflicht des Nützens verbindet. Ich will während des Hausverkaufs und der Versteigerung in Ihnen, mein väterlicher Freund, und in Ihrer Gemahlin meine Eltern, in Ihrem Hause meine Heimath sehen. Und dann, dann trete ich den Weg an, den ich mir erwählt habe, mit Gottes Hülfe.“
Der alte Mann lachte. „Aber Marie, Sie werden ja heirathen!“ rief er lustig.
Marie wurde plötzlich sehr roth und erhob sich. „Nie!“ sagte sie. Ihre Stimme war dabei ruhig wie ihr Gesicht. Aber auf diesem Gesichte lag der alte Schatten der einsamen Jugend dräuender als je.
„Oho! Niemals? Wie können Sie das verschwören? Kein junger Mensch hat Sie ja noch allzu nahe gesehen, und Sie kennen auch keinen, höchstens den jungen Grafen Leon, wenn er hier vorbei muß. Haben Sie den schon gesprochen?“
„Ja!“
„Richtig, Sie müssen ja als Nachbarskinder miteinander gespielt haben!“
„Nein! Wir hatten nie Verkehr mit dem Grafenschlosse. Als Kind schon erhielt ich den Befehl, nie in das gräfliche Gebiet hinüberzulaufen. Und so habe ich niemals gespielt.“
„Nie gespielt mit dem einzigen Nachbarkinde, das Ihnen vergönnt war? Aber das ist ja ärger, als ob Sie nie ein Märchen gehört hätten, Sie armes Kind! Wann sprachen Sie aber dann mit dem jungen Grafen? Ich hörte, er wurde ebenso hochmüthig-einsam erzogen, wie seine hochmüthige Mutter ist – seit dem Tode des alten Grafen Stasingen …“
„Ich sprach ihn einmal vor zwei Jahren, als sein Pferd vor unserm Thore das Bein verstaucht hatte und unser Knecht es verband. Graf Leon trat damals in unsern Garten ein. Und das zweite Mal sprach ich ihn vor einem halben Jahre. In der Nähe von Lobenstein verfolgten mich Zigeuner, und er trieb sie von dem Parkthore aus zurück.“
Marie Kärner erzählte das kurz, ruhig, wie es ihre Art war.
„So, das sind die einzigen beiden Male, daß Sie mit einem liebenswürdigen jungen Menschen in nähere Berührung traten? Das würde weiter nichts machen; es war eben für Sie eine Erziehung, wie man sie in berühmten Pensionat-Klöstern erhält. Aber diese beiden Male haben Ihnen einen solchen Widerwillen gegen das Heirathen eingejagt?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich nicht heirathen
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_443.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2017)