Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Kies des Ganges streifte; Fernow wandte sich um, von einer Ahnung durchzuckt; vor ihm stand Jane, todtenbleich, den Blick zu Boden geheftet, die Hände fest ineinander geschlungen und mit einem Ausdruck, als gelte es jetzt das Furchtbarste in ihrem ganzen Leben. Die Brust hob und senkte sich krampfhaft, die Lippen zuckten, sie wollten nicht gehorchen, und endlich öffneten sie sich doch zu dem verhängnisvollen Worte:
„Ich – ich bitte um Verzeihung!“
„Miß Forest! Johanna!“ rief er in ausbrechender Leidenschaft; aber da hatte sie sich schon gewandt und floh, wie gejagt, den Gang hinauf. Er wollte ihr nachstürzen, da hallte die Stimme Friedrich’s laut durch den ganzen Garten.
„Herr Professor, wir müssen fort! Herr Professor, wo sind Sie? Wir haben keine Minute mehr Zeit!“
Fort! In diesem Augenblicke! Die neue Pflicht forderte das erste schwere Opfer, ein minutenlanger Kampf, dann war es überstanden!
„Ich komme!“ klang es in festem Tone zurück. Er eilte dem Hause zu. Unter dem Weinlaub des Balcons dunkelte es bereits, nur die Umrisse der hellen Gestalt waren noch sichtbar, die sich zur Hälfte darunter verbarg; einen Moment lang zögerte der Fuß des Professors, nur einen einzigen, und heiß und innig klang das nun endlich erzwungene Abschiedswort zu ihr hinauf:
„Lebe wohl!“
Wochen und Monate waren vergangen, seit der erste Ruf zu den Waffen erklungen, und noch immer tobte das Kriegswetter mit unverminderter Gewalt, aber der Pfeil war auf den zurückgeschnellt, der ihn abgesandt. Am Rhein reifte friedlich die Traube und färbte sich dunkler von Tag zu Tag, auf den Feldern wogte die goldene Ernte, in den Städten flatterten die Siegesbanner, aber drüben in Frankreich, da sanken die Rebenhügel, verwüstet und blutgetränkt, da zerstampften Mann und Roß die blühenden Fluren, da schlug der Brand der Dörfer in flammender Lohe zum Himmel empor. All die Schrecknisse, die den Rheinlauben zugedacht waren, sie trafen jetzt den eigenen Boden, ein spätes, aber furchtbares Strafgericht für die einst so frevelhaft verheerte Pfalz, selbst der Sieger vermochte es nicht mehr zu hemmen, das einmal entfesselte Verderben nahm seinen Lauf, hinweg über Schuldige und Unschuldige, und das zuckende Land empfand jetzt endlich selbst die ganze Schwere des Wortes, mit dem es sich oft genug von jeder Verantwortung freigesprochen – c’est la guerre!
Ununterbrochen vorwärts ging der Siegeszug der deutschen Heere, vom Rhein zur Mosel, von der Mosel zur Maas, von der Maas zur Seine, Alles niederwerfend, was ihm im Wege stand. Stadt für Stadt öffnete ihre Thore, Festung auf Festung fiel nach längerem oder kürzerem Widerstande, die heiße Augustsonne brannte nieder auf sieben Schlachtfelder, sie begrüßte ebensoviel Siegesdenkmale, und das erste kühlere Wehen des September strich über jenen Boden, wo der weichende Feind, von allen Seiten umzingelt, eingeschlossen, erdrückt, sich endlich bezwungen gab. Ein ganzes französisches Heer, das einst gefürchtete Haupt an der Spitze, hielt nun wirklich den so sicher verheißenen Einzug in Deutschland, aber – ohne Wehr und Waffen, indeß seine Ueberwinder weiter vordrangen, mit rastlos eiserner Beharrlichkeit, nach dem Herzen Frankreichs, nach Paris!
In der Departementshauptstadt N. herrschte, trotzdem die eigentliche Kriegswoge längst darüber hinaus war, ein reges militärisches Leben. Die Stadt lag als eine der Hauptstationen auf der großen Militär- und Etappenstraße, die jetzt von Deutschland in das Innere Frankreichs führte. Nachrückende Regimenter, endlose Proviant- und Munitionscolonnen kreuzten sich hier mit den rückkehrenden Transporten von Kranken und Verwundeten, mit Ambulancen und Courieren, alle Straßen waren vollgepfropft mit Menschen, Wagen und Pferden, alle Quartiere überfüllt, und die beiden Reisenden, dem Anscheine nach Amerikaner oder Engländer, welche gestern angelangt waren, konnten, obwohl sie unzweifelhaft zu den Reichen gehörten, noch von Glück sagen, in einem Hôtel zweiten Ranges ein hochgelegenes, dürftig ausgestattetes Zimmer für einen unmäßigen Preis zu erhalten.
Es war am Morgen nach ihrer Ankunft, der Fremde saß im Sopha, während seine junge Begleiterin am geöffneten Fenster stand und auf die Straße hinabblickte, wo sich auch heute wieder ein wirres Durcheinander von Fußgängern und Fuhrwerken drängte, dessen unaufhörliches Lärmen und Toben bis zu ihr hinaufdrang.
„Ich begreife nicht, wie Sie diesen betäubenden Lärm da unten noch aushalten, Miß Jane! Sind Sie denn dieses ewigen Gewoges und Getreibes nicht endlich müde?“
„Nein!“ lautete die kurze, etwas übellaunige Antwort der jungen Dame, die sich in diesem Augenblick weit vorbeugte, um einen Wagen mit Verwundeten schärfer in’s Auge zu fassen. Ihr Blick haftete unverwandt auf den bleichen Zügen der Kranken, sie sah ihnen nach, bis der Wagen um die Ecke bog.
„Nun, dann haben Sie bessere Nerven als ich!“ sagte Atkins resignirt. „Ich bekenne, in den letzten acht Tagen vollständig mürbe geworden zu sein. Eine volle Woche zu dieser Fahrt nach N., das man sonst in vierundzwanzig Stunden erreicht, Nachquartier in den elendesten Dörfern, Essen, wie ich es in meinem Leben nicht gekostet, stunden- und tagelanges Liegenbleiben in halbzerstörten Ortschaften, gesprengte Brücken, unpassirbare Wege, und dabei immer in Gefahr, daß in unserer nächsten Nähe eine Schlacht geschlagen und wir von der Sieges- und Fluchtwoge mit fortgerissen werden – ich sollte meinen, das Alles hätte Ihnen nun endlich bewiesen, wie unmöglich es ist, Familienbeziehungen bis auf den Kriegsschauplatz verfolgen zu wollen.“
Jane hatte während dieser Rede das Fenster geschlossen und wandte sich jetzt um. „Unmöglich?“ fragte sie ruhig. „Ich dächte, wir wären trotz alledem in N. angelangt, und hier wartet unser jedenfalls eine Entscheidung.“
„Oder eine neue Enttäuschung! Diese Spur narrt uns in einer ganz empörenden Weise, kaum meinen wir sie zu haben, so springt sie plötzlich ab, und weist nach einer andern Himmelsgegend. Vorläufig sind wir in Frankreich, mich sollte es durchaus nicht wundern, wenn wir das nächste Mal nach Amerika zurückdirigirt würden, von da zur Abwechselung wieder nach dem Rhein, und so fort.“
„Gleichviel!“ erklärte Jane energisch. „Ich habe es meinem Vater gelobt, wenn mein Bruder noch am Leben ist, ihn zu finden und nur der Unmöglichkeit zu weichen. Ich werde Wort halten!“
„Wäre es wenigstens noch eine directe Spur, der wir folgen!“ hob Atkins wieder an; „aber wen suchen wir denn? Einen Menschen, der uns über die eigentliche Hauptperson möglicher Weise Auskunft geben könnte!“
„Vielmehr den Einzigen, der sie uns wirklich geben kann! Die directe Spur ging verloren; jener Geistliche war nicht aufzufinden, weder von seiner ehemaligen Pfarre aus, noch in anderer Weise; alle unsere Bemühungen nach dieser Richtung scheiterten; dafür fanden wir den Handwerker, der den anderen Knaben zu sich nahm.“
„Um von ihm die erfreuliche Nachricht zu empfangen, daß sein Neffe bereits vor vier Jahren nach Frankreich gewandert sei und augenblicklich gerade dies N., das so recht inmitten all der heillosen Kriegsoperationen liegt, zum Schauplatz seiner jedenfalls höchst achtungswerthen Leistungen an der Hobelbank gewählt habe.“
In Jane’s Augen flammte es halb unwillig auf. „Sie vergessen das Wichtigste, das Eine, was allein uns herführte, die Behauptung jenes Mannes, daß der ehemalige Gefährte des jungen Erdmann noch am Leben sei, daß die Beiden, nachdem sie jahrelang getrennt waren, sich bei Ableistung ihrer Militärpflicht wiedergefunden. Näheres vermochte er uns freilich nicht anzugeben, sein Neffe diente damals fern von ihm in einer größeren Garnisonstadt; das aber erinnerte er sich ganz bestimmt aus seinem Munde gehört zu haben. Ich weiß also jetzt, daß mein Bruder noch lebt, daß es Jemand auf der Welt giebt, der ihn kennt, der mir seinen Aufenthalt nennen kann. Scheint Ihnen dies kein Schritt, den wir vorwärts gethan haben? Es ist mehr, als ich je gehofft!“
„Aber ich bestreite ja das ganz und gar nicht!“ vertheidigte sich Atkins gegen den beinahe zürnenden Ton der jungen Dame. „Ich war nur der Ansicht, die ferneren Nachforschungen bis nach Beendigung des Krieges aufzuschieben.“
Jane hob mit einer heftigen, diesmal vollendet unwilligen Bewegung das Haupt empor.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_312.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)