Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Gesicht Herrn Hösli geheimnißvoll zu. Dieser nickte, Frank verschwand, und schneller als gewöhnlich stand Herr Hösli auf und ging nach dem Hause. –
Anna saß indessen auf der Terrasse drüben und machte sich selbst weis, sie lese. Aber sie las nicht. Seit den letzten Aeußerungen ihrer Eltern, welche sie so schroff abgeschnitten hatte, war sie innerlich aus dem Gleichgewicht gekommen; was sie auch that und las, eine stille Qual nagte an ihrem Herzen und lähmte ihre Kraft und ihr Interesse. So schaute sie über das Buch weg nach dem See, und tausend wechselnde Bilder mochten mit den schimmernden Wellen an ihr vorüberziehen. Ihr war, als hörte sie Alfred mit seinem lahmen Fuße über den Kies gehinkt kommen und sagen: „Aenny, laß uns spielen.“ Aber er kam nicht mehr und dachte nicht mehr an die harmlose Kinderzeit, denn es war ja nicht mehr der kleine Fredy, er war groß geworden – groß in in jeder Hinsicht, er war ein berühmter hochgestellter Mann, und das Mädchen, das seine treue Liebe so hart zurückgewiesen, war – todt für ihn!
Ein Geräusch schreckte sie auf. Sie wandte den Kopf. Was war das? Ihr Vater führte mit Frank einen Fremden in den Garten. Er schüttelte ihm herzlich die Hand, machte ein Zeichen nach Anna hin und verschwand mit Frank in das Haus! Der fremde Herr schritt die Terrasse entlang. Es war eine edle vornehme Erscheinung von stolzer Haltung, – nur der Gang hatte etwas Eigenthümliches, das eine Knie bog sich nicht beim Auftreten. Anna schaute und schaute. Sie konnte sich nicht rühren, weder vor noch zurück. Es war ihr, als sänke sie in den See und die Wellen stiegen ihr immer weiter zum Herzen hinan. Der Fremde kam so langsam näher, viel zu langsam und doch auch wieder viel zu schnell, denn da stand er ja schon vor ihr und streckte ihr die Hand hin und sagte mit dem altvertrauten Tone: „Aenny!“
„Fredy!“ schrie sie auf zwischen Lachen und Weinen „Ach, der Fredy, der Fredy!“ Und ein Zittern überlief sie vom Scheitel bis zur Zehe, die Kniee versagten ihr, sie sank auf die Bank zurück und verhüllte das Gesicht vor übermächtiger Bewegung.
Alfred setzte sich leise neben sie hin und zog ihr die Hand von dem thränenüberströmten Gesicht. „Lieb’ Aennchen, hab’ ich Dich erschreckt?“ flüsterte er und immer reicher flossen des Mädchens Thränen. „Aenny, Du weinst?“ sagte Alfred in bebender Freude, „so kenne ich Dich ja gar nicht!“
Da riß sich das scheue Geschöpf, als schämte es sich plötzlich seiner Leidenschaftlichkeit, von ihm los und eilte hinweg den Garten hinunter. Aber Alfred eilte ihr nach, und diesmal – zum ersten Male in seinem Leben – holte er sie ein. „Aennchen,“ sagte er, „schämst Du Dich Deiner Thränen, darf ich sie nicht sehen?“
Sie stand mit abgewandtem Gesichte vor ihm.
„Aennchen!“ fuhr er fort und schlang sanft den Arm um sie. „Ich habe noch viel, viel mehr Thränen um Dich vergossen und bitterer als die Deinen; ich verdiene es wohl, daß Du auch einmal um mich weinst!“
Da nahm sie das Taschentuch von den Augen und sah ihn an in überströmendem Gefühl. „Ja bei Gott, Du verdienst es, und ich will nicht klein sein und mir’s erst von Dir abfragen lassen; ganz und voll will ich Dir geben, was ich so lange für Dich im Herzen trage; was kann ich Dir denn geben, was nur halb Deiner würdig wäre – wie viel’s auch ist, es ist noch immer nicht genug für solch einen Mann!“
Alfred hörte ihr zu wie im Traume; er hatte ihre Hand auf seine Brust gepreßt, und sie fühlte den mächtigen Schlag seines Herzens.
„Fredy,“ fuhr sie fort, und die Worte quollen ihr von den Lippen unaufhaltsam, mit hinreißender Beredsamkeit, „Fredy, ich habe Dir einst versprochen, daß ich Dir’s ungefragt sagen wollte, wenn ich Dich liebte! Weißt Du’s noch? Schau, ich halte Wort, ungefragt, freiwillig sag’ ich Dir’s jetzt, Fredy, ich habe Dich so lieb, daß ich für Dich sterben könnte!“ Und als habe sie die Last dieses übermächtigen lange verborgenen Gefühls nur eben noch bis hierher und nicht weiter tragen können, brach sie in die Kniee und sank an Alfred zur Erde nieder.
Er hob sie mit nervigen Armen auf und legte sie an sein Herz. Ein leises „O!“ ein Laut unaussprechlicher Wonne entschlüpfte ihren Lippen als sie ihr Haupt an dies große treue Herz schmiegte. „Hier ist mein Platz, hier und nirgend anders in der Welt,“ schluchzte sie leise. „Fredy, lieber Fredy - seit ich mich von diesem Herzen verbannt, war ich wie der aus dem Nest gefallene Vogel, den wir einmal in Geßner’s Eichenhain fanden – weißt Du’s noch?“
Alfred konnte nicht antworten, er hielt sie stumm umschlungen, der erste Augenblick des Glücks, so lange er lebte. Er hatte immer nur Worte für den Schmerz gehabt, die Sprache des Glücks mußte er erst lernen.
Aber Aenny fuhr fort, indem sie den Kopf hob und ihn selig lächelnd anschaute: „Da habe ich Dir nun Alles gestanden und weiß nicht einmal, ob Du mich noch so lieb hast wie ich Dich, – habe Dir mein Herz gegeben und weiß nicht, ob Du’s nur noch haben willst, Ach, es ist einerlei; wenn Du’s nicht willst, so wirf’s weg, ich kann doch nichts mehr damit anfangen.“ Und sie sah den feuchten Glanz seiner Augen und fühlte das heiße Pochen seines Herzens, und sie schüttelte mit süßer Zuversicht den Kopf. „Nein, nein, Du wirfst es nicht weg – Du nimmst es wieder auf in sein Nestchen da hinein in die treue warme Brust. Gelt, ich plaudere unaufhörlich. Aber Fredy, wie lange habe ich nicht mehr mit Dir gesprochen! Wie viel, wie unermeßlich viel muß ich noch reden, bis ich Dir Alles gesagt habe, was ich in all den Jahren an Liebe und Heimweh schweigend hinuntergekämpft habe! Das ganze Leben wird ja dazu nicht ausreichen!“
„Anna!“ rief Alfred, sie fest und fester an sein Herz schließend. „Was ist aus Dir geworden, Mädchen? Ich habe viel gelitten, Unaussprechliches; ich habe Dich zu kennen und zu lieben geglaubt – aber jetzt, jetzt erst weiß ich, was die eigentliche Liebe ist. Hätte ich Dich damals schon gekannt und geliebt wie in diesem Augenblicke – ich wäre meinem Schmerze erlegen. Anna, wenn Du mich nach diesem Augenblicke wieder von Dir stießest, würdest Du mich tödten denn jetzt könnte ich nicht mehr leben ohne Dich!“
Anna sah ihm ernst und voll in die Augen. „Ich verstehe und verdiene den Vorwurf, in diesen Worten“ sagte sie, und es lag eine Weihe in ihrem Tone. „Du zweifelst an meiner Fähigkeit, Treue zu halten; Du kennst mich nur als ein flatterhaftes unzuverlässiges Ding, das von Dir zu Victor und von diesem zu Dir zurückeilte. Aber, Fredy, ich bin dennoch treu geblieben mir selbst und Dir! Denn ich habe Dich immer geliebt, ich hab’s mir nur selbst nicht eingestehen wollen weil – nun ja – warum soll ich Dir’s nicht sagen? Du mußt jeden Gedanken meiner Seele kennen, – weil Du mir so unmännlich und unbedeutend erschienst – und ich ein eitles Ding war, das mit seinem Geliebten großthun wollte und sich selbst für so erhaben hielt, daß es meinte, nur ein Held sei seiner werth. Diesen Helden glaubte ich in Victor zu finden, weil ich in meiner Oberflächlichkeit nur nach dem Aeußern urtheilte. Aber ich habe erkennen gelernt, worin der wahre Manneswerth besteht; Du gabst mir, ohne daß ich es selbst wußte, den Maßstab dafür, und als ich ihn an meinen Helden legte – da befand ich diesen zu klein! So wurde mir es allmählich klar, daß Du, Du allein jene Größe in Dir trägst, die ich nur in der prächtigen Hülle Victor’s gesucht, und daß in der zartesten Hülle gerade der stärkste Geist wohnen kann. Glaube nicht, Alfred, daß erst Deine Erfolge, daß erst die Bewunderung, welche Dir die Welt zollte, mich das gelehrt – wäre das erst nöthig gewesen, dann wäre meine Liebe für Dich, wie damals für Victor, nicht mehr als die Eitelkeit, einen großen Mann zu besitzen. Nein bei Gott, von solchen Schlacken ist meine Seele gereinigt. Noch in Victor’s Arm erkannte ich, daß Du mir tausendmal mehr warst als er, und an jenem Abend, wo ich, von Victor aus Feigheit verlassen, Dich bei dem Bette unsreres Frank’s fand – da wußte ich, was Du bist und daß ich Dich liebe!“
Sie legte ihre gefalteten Hände auf Alfred’s Brust. „Seitdem habe ich Dein gehört mit jedem Gedanken, habe mich zu Dir zurückgesehnt, ach, so unaussprechlich! Und ich habe an mir gearbeitet, um mich zu bilden und Deiner werth zu sein – Deiner? Nein! – ich hoffte ja nicht mehr auf Dich, – nur um des Gedankens an Dich werth zu sein! Fredy, es mag wohl hart sein, ein Glück erst zu erkennen, nachdem man es verlor, – aber ein Glück erkennen, nachdem man es freiwillig von sich gestoßen, das ist ein Schmerz der Reue, der am Leben nagt. Gott sei Dank, nun ist es einmal vom Herzen,“ sie that einen tiefen Athemzug, „ah, nun ist mir leicht! O die Wonne, die Wonne, sich wieder einmal so aussprechen zu können! Weißt Du noch, es war immer meine Gewohnheit, das heißt ich dachte, es sei nur so eine Gewohnheit;
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_871.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2021)