Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Und in raschem Anlauf warfen sich die Gesellen durch die unschlüssig dastehende Menge auf Alfred. Die Weiber fuhren kreischend auseinander, einige stürzten fort und schrieen in den Wald hinein: „Hülfe, sie ermorden den Salten!“
Die wenigen Unterthanen Alfred’s umringten ihn. Alfred aber hatte ein Schriftstück aus der Tasche gezogen und hielt es wie einen Schild den Andringenden entgegen. „Da seht her,“ rief er mit starker Stimme, „und überzeugt Euch zuvor, was Ihr thut, wenn Ihr den Mann tödtet, der nur für Euch und Euer Recht gelebt und gekämpft hat! Wer unter Euch lesen kann, der lese!“
Die Männer blieben wie gebannt stehen und starrten im das Blatt. Einer davon las es laut vor. Es war die Zustellung, daß die Kammer auf Antrag Salten’s der Provinz einen Zuschuß von drei und einer halben Million Thaler bewilligt. Dies Document war ein Schild, fester als je einer von den tapferen Ahnherren Alfred’s geführt worden!
Ein Jubel brach aus, so stürmisch wie kaum zuvor die Wuth gewesen. Die Freude hatte die wilden Gesellen ganz umgewandelt, sie warfen sich vor Alfred zur Erde und küßten ihm Füße und Hände.
„Seht Ihr,“ sagte Alfred, „ich wußte es wohl, daß Ihr besser seid, als Ihr selbst glaubtet.“
In diesem Augenblick geschah etwas Unerklärliches, ein Schuß wie von hundert auf einmal abgefeuerten Kanonen und siehe da, wie mit einem Zauberschlage stürzte das Wasser plötzlich wieder in der Richtung seines alten Bettes fort und der Abfluß des Durchstichs begann vor den Augen der staunenden Menge zu sinken.
„Was ist das?“ schrieen Alle durcheinander.
„Das Wasser fließt ab,“ erklärte Alfred, „die Soldaten, die Ihr vorbeimarschiren hörtet, waren die Pionniere, die ich von Lötzen kommen ließ, um das Eis zu sprengen – jetzt hat der Fluß wieder seinen Lauf und die Ueberschwemmung ist zum Stehen gebracht.“ Er lächelte. „Ich denke, ich kann Euch doch wohl noch mit Rath und That etwas nützen, wenn ich auch so arm – oder ärmer bin als Ihr Alle!“
Die Menschen waren außer sich. „Herr, vergebt uns, tragt’s uns nicht nach!“ riefen sie in aufrichtiger Reue.
Jetzt galoppirte ein Reiter heran, ein Officier der Lötzner Garnison. „Alfred,“ rief er schon von Weitem, „es ging ausgezeichnet, die Wasser verlaufen sich. Du hast wieder wie immer das Rechte getroffen. Was ist das?“ Er parirte sein Pferd vor der Leiche Egon’s.
„Victor,“ sagte Alfred, „Du bist jetzt Herr von Schornkehmen. Du bist der Letzte eines versunkenen Geschlechts, werde der Erste eines neuerstehenden, wecke es im Sinne unserer modernen Humanität, und Segen wird aus den Trümmern der Vergangenheit sprießen“
Da faßte Victor bewegt Alfred’s Arm. „Hilf Du mir, daß ich es kann, ich will es redlich, aber nur an Deiner Hand werde ich es vollbringen“
„Freut Euch, Ihr Leute!“ rief Alfred. „Das Eis des Winters und der alten Zeit ist gebrochen und der neue Frühling bringt Euch eine neue bessere Zeit!“
Sonniger Friede lag auf dem Zürichersee. Die kräuselnden Wellen spielten und tanzten wie geschmolzenes Silber melodisch klingend um das Ufer der Hösli’schen Besitzungen, und die Lustreisenden auf den Dampfschiffen zeigten unter dem weiß und roth gestreiften Baldachin wohl neidisch nach den schattigen Kastanien und den eleganten Landhäusern herüber und sagten: „Die haben’s gut!“
Im Schilf des Landungsplatzes schaukelte der grünangestrichene Kahn auf und nieder, der einst Alfred fortgebracht hatte aus dem stillen Frieden der Kindheit einem Leben von Stürmen und Kämpfen entgegen. Es war Alles noch wie damals, denn der stätige Sinn der Schweizer hält fest bis in’s Kleinste an Altgewöhntem und verändert nicht gern. Ueberall die strengste Ordnung. Nur drüben auf der Terrasse der Salten fehlte die sorgliche Pflege. Hier senkten sich wuchernde Zweige unbeschnitten bis auf die Balustrade herab, wie trauernd um die lange Vereinsamung, und verschleierten ganz und gar die Aussicht, so daß nur noch der See durch die runden Oeffnungen der Balustrade durchschimmerte. Die wilden Kastanien lagen wie gesäet umher, keine Kinderhand hob sie mehr auf, um Halsketten und andere schöne Dinge daraus zu machen. Auf den Steinbänken wuchs grünes Moos, und die Wege waren nicht gereinigt. Es war hier wie in dem Garten Dornröschens. Alles schien in ein wehmütiges Träumen versunken, auch das Haus mit seinen für immer geschlossenen Läden schien zu schlafen. Hier in dieser träumerischen Stille und Einsamkeit weilte Anna Hösli am liebsten. Auf ihren Wunsch hatte der Vater das Gut nicht wieder vermietet und Alles gelassen, wie es war. Hier auf der alten Terrasse saß sie stundenlang, sie sagte, sie könne in dieser Einsamkeit besser lesen und lernen. Sie beschäftigte sich seit einigen Jahren vorzugsweise geistig. Alle Schätze der schönen Literatur machte sie sich zu eigen. Ihr Urtheil reifte, ihre Anschauungen erweiterten sich, ihr ganzes Wesen wurde ernster, tiefer.
Herr und Frau Hösli sahen diese Veränderung nicht ohne Sorge, denn sie fühlten sehr wohl, daß Anna ein heimliches Leid mit sich herumtrug, wie beharrlich sie es auch hinter einer gleichmäßigen Ruhe und Freundlichkeit zu verbergen suchte, und es war recht still im Hause Hösli geworden. Mehrmals hatte Frau Hösli versucht, sich das Herz ihrer Tochter zu öffnen, aber Anna war eine Schweizerin, und die Schweizer sind verschwiegen.
Eines Tages hatte Frau Hösli gesagt: „Anna, ich habe einen Brief vom Grafen Victor, er möchte Alfred mit Dir versöhnen, er meint, dies sei seine Schuldigkeit, da er Euch auseinandergebracht, und er behauptet, Alfred liebe Dich noch.“
Anna war jäh erröthet, und sich heftig abwendend sagte sie nichts als: „Was wird denn der wissen?“
Ehe ihre Mutter etwas erwidern gekonnt, hatte sie das Zimmer verlassen. Frau Hösli nahm sich vor, nicht weiter in das verschlossene Mädchen zu dringen. Von da an entwickelte sich hinter Anna’s Rücken eine Correspondenz zwischen Herrn Hösli und Victor. Als aber das Unglück der Ueberschwemmung Alfred’s Güter betroffen, dehnte sich die Correspondenz auch auf Alfred aus. Herr Hösli bot ihm ein großartiges Darlehen an, um ihn aus seiner augenblicklich so schwer bedrängten Lage zu retten. Alfred lehnte es jedoch ab. Die Regierung hatte ihn in Anbetracht seiner Verdienste zum Generalcommissair der Provinz ernannt und ließ seine Fabrik auf Staatskosten wieder aufbauen. Eine fast beispiellose Auszeichnung und Vergünstigung, die eben nur einem Manne von Alfred’s rastlosem und aufopferndem Wirken zu Theil werden konnte.
„Was sagst Du dazu Anna?“ hatte Herr Hösli seine Tochter gefragt. „Bist Du nicht stolz auf Deinen ehemaligen Spielgefährten? Dieser Mensch ist alles, was er ist, durch sich selbst geworden; er hat die Vorurtheile seines Standes abgestreift, hat seine Kränklichkeit überwunden und durch Willensstärke und ohne jede andere Hülfe das Unglaublichste vollbracht. Er ist im wahren Sinne des Wortes ein self-made man. Was wird der noch für eine Carrière machen!“
Anna hatte, ohne etwas zu erwidern, die Achseln gezuckt und war, wie immer, wenn von Alfred die Rede war, aufgestanden und weggegangen. Herr Hösli hatte ihr lächelnd nachgeschaut und nicht ohne Stolz zu seiner Frau gesagt: „Ein rechter Schweizerkopf!“
Alfred’s aber war seitdem nicht mehr in der Familie erwähnt worden, nur Frau Hösli wußte um seinen Briefwechsel mit ihrem Manne.
„So kann es nicht mehr lange fortgehen,“ sagte heute Frau Hösli verstimmt. „Dieser herrliche Tag, wo ganz Zürich auf den Bergen und auf dem See ist, und das Mädchen sitzt wieder drüben allein und brütet über einem Buche, nicht einmal mit Frank’s Kindern, die sich so nett entwickeln, mag sie sich mehr abgeben. Sie hat für Nichts mehr Sinn. Das muß anders werden!“
Herr Hösli versteckte sich wieder, wie immer, hinter der Zeitung, und Frau Hösli sah zum Glück nicht, wie pfiffig er lachte und wie tief das Grübchen wurde – es hätte sie sonst verdrießen müssen.
„Es wird wohl bald anders werden. Alte!“ tröstete er und sah auf die Uhr, als könne sich diese Wandlung in einigen Minuten vollziehen.
Eine Weile schwiegen Beide, das Zeitungsblatt rauschte leise in Herrn Hösli’s Hand, Da trat Frank hinter Frau Hösli’s Rücken aus dem Vestibül in den Garten und winkte mit freudestrahlendem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_870.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)